Inhalt

Aus der Perspektive des Kastanienbaums, der seit 150 Jahren in dem Garten vor jenem Haus wächst, in dem sich Anne Frank mitsamt ihrer Familie in der Zeit zwischen Juli 1942 und August 1944 vor den Nationalsozialisten verstecken muss, wird an Annes letzte Lebensjahre erinnert.

Als Reaktion auf die restriktiven Judengesetze, die in den Niederlanden ab 1940 erlassen und sukzessive erweitert werden, versteckt sich Annes Familie im Hinterhaus der Prinsengracht 263. Anne schreibt täglich in ihr Tagebuch. Der Kastanienbaum ist Anne ein treuer Begleiter, der ihr in ihrem beengenden Versteck Trost und neuen Lebensmut spendet: "Ich, der Kastanienbaum […] habe einem dreizehnjährigen Mädchen, das wie ein Vogel im Käfig eingesperrt war, ein wenig Hoffnung und Schönheit geschenkt." (o.S.)

Die verstreichende Zeit wird durch die biologischen Verwandlungen des Baumes im Jahreslauf dargestellt. Im August 1944 wird Annes Familie verraten, von der Polizei erfasst und deportiert. Der Lesende erfährt, dass Anne im Jahr darauf im Konzentrationslager Bergen-Belsen an Typhus erkrankt und stirbt – von der Familie und den anderen Untergetauchten überlebt nur Annes Vater. Eingerahmt ist die Erzählung von dem Schicksal des Baumes, der einleitend seinen bevorstehenden Tod ankündigt. Dieser trifft, so erfährt der Rezipierende im Nachwort, am Ende auch ein.

Kritik

Der Erzählduktus des Buches ist besonders hervorzuheben, denn die Erzählinstanz, ein personifizierter Baum, nähert sich mittels bildreicher Sprache auf emphatische Weise der Gedankenwelt des jungen Mädchens an. Zudem werden auch authentische Zitate aus Annes berühmt gewordenem Tagebuch eingeflochten.  

Der poetische Stil ist ebenso auf der Bildebene zu erkennen, die als besonders komplex zu beschreiben ist. So werden die Träume Annes und die Gefühle der Gefangenen in den Bildern lebendig. Gestalterisch gelingt dies durch die überwiegend schwarz-weiß gehaltenen Bleistiftzeichnungen, die häufig mit kleinen, aber wirkmächtigen Farbimpulsen den Blick auf wesentliche, symbolträchtige Elemente lenken (z. B. der gelbe Judenstern, ein rot-brauner Fensterrahmen, usw.).

Dabei ist die Symbolkraft des Baumes in Text und Bild allgegenwärtig. Der gesunde Baum, der im Frühling erblüht, steht für Annes immer wiederkehrende Hoffnung auf ein Leben in Freiheit: "Als sie mich wieder erblühen sah, dachte sie sicher an die Zukunft."(o.S.) Die Blätter des Kastanienbaumes als zentrales Moment der Hoffnung finden sich in vielen Illustrationen wieder. Sie schaffen einen farblichen Kontrast zu der zumeist farblosen und tristen Bildkomposition. So beispielsweise auf dem großflächigen monoszenischen Bild, das Anne am Fenster des überdimensional groß wirkenden Hauses zeigt, die Hand nach dem rot-braunen Kastanienblatt ausstreckend. Der Bogen spannt sich bis zu einem Bild im hinteren Teil des Buches. Zu sehen ist ein Stacheldrahtzaun eines Konzentrationslagers im Schnee. Die Bäume im Hintergrund haben ihre Blätter – ihre Hoffnung – verloren. Das Kastanienblatt, das sich im Stacheldraht verfangen hat, verweist auf den Tod Annes.

Die Verknüpfung von Annes Geschichte mit der des Baumes ist sehr poetisch und allegorisch. Der Baum, der zu verfaulen droht, kann erst im Angesicht seines eigenen Todes sein Schweigen durchbrechen und Annes Geschichte erzählen. Trotz des Versuchs dieser Aufarbeitung gelingt es ihm nicht, seinen Schmerz über das Erlebte auszudrücken: "Ich werde weiter stumm bleiben. Wenn mein Stamm zu Boden stürzt, wird kein Schrei zu hören sein."(o.S.) Verwiesen wird hier auf die vielen anderen namenlosen Opfer des Nationalsozialismus, deren Schmerz und Leid unbeachtet bleiben.

Die Botschaft des Bilderbuches ist ergreifend und dennoch tröstend; das Buch regt zum Nachdenken an. Wenn auch die Generation der Zeitzeugen langsam ausstirbt, erlischt die Erinnerung an die Opfer nicht. Der Ableger des Baumes, der nach dem Umstürzen der alten Kastanie gepflanzt wird, soll an Anne und ihre Familie erinnern. Am linken Rand des letzten Bildes wird im typischen Duktus der Bleistiftzeichnungen der Unterkörper eines Kindes mit einer Gießkanne abgebildet: ein Hinweis auf die Aufgaben der nachfolgenden und zukünftigen Generationen. Wie der neue Baum gegossen und gepflegt werden muss, so muss auch das Gedenken an die Opfer lebendig gehalten werden.    

Fazit

Annes Baum ist ein sehr intelligentes und vielschichtiges Bilderbuch, das Kindern ab acht Jahren einen höchst emotionalen Zugang zur Auseinandersetzung mit dem Holocaust und seinen Opfern bietet. Dabei ist die besondere Komplexität und Symbolträchtigkeit von Bild- und Textebene nicht von Beginn an zu erfassen. Wenngleich nicht alle Details entdeckt und gedeutet werden können, ist doch die zentrale Bedeutung des Textes, die Erinnerung an die Opfer des Holocaust, auch für junge Leserinnen und Leser nachvollziehbar. Die Ernsthaftigkeit der Thematik bedarf einer (zurückhaltenden) Begleitung durch einen erwachsenen (Mit-)Lesenden, der mögliche Fragen der Kinder aufgreifen kann.

Trotz des dargestellten Grauens, der Deportation und Annes Tod, wirken Schrecken und Leid in Annes Baum nicht erdrückend. Die jungen Rezipierenden verspüren anhand des Buches Hoffnung und erkennen, dass die Erinnerung dazu verhelfen kann, mit dem Leid umzugehen. Ferner regt insbesondere die letzte Doppelseite des Buches Kinder dazu an, sich der eigenen Verantwortung bewusst zu werden; jede und jeder Einzelne hat Sorge zu tragen, dass sich ein solches Grauen niemals wiederholen kann.

Titel: Annes Baum
Autor/-in:
  • Name: Cohen-Janca, Irène
Originalsprache: Französisch
Originaltitel: Les Arbres pleurent aussi
Übersetzung:
  • Name: Scheffel, Tobias
Illustrator/-in:
  • Name: Quarello, Maurizio
Erscheinungsort: Hildesheim
Erscheinungsjahr: 2011
Verlag: Gerstenberg
ISBN-13: 9783-8369-5393-1
Seitenzahl: 40
Preis: 13,95 €
Altersempfehlung Redaktion: 8 Jahre
Cohen-Janca, Irène/ Quarello, Maurizio: Annes Baum