Inhalt

In der Reihe Kinder und Jugendliteratur aktuell des Münchener Kopaed Verlags ist 2018 ein Band erschienen, der dieser Vielfalt in Tuckermanns Schaffen konzeptionell Rechnung tragen will. Die Bände dieser Reihe zielen darauf, einen Überblick über Werk und Poetologie ausgewählter Autorinnen und Autoren, Illustratorinnen und Illustratoren sowie Übersetzerinnen und Übersetzer aus dem Sektor der Kinder- und Jugendliteratur zu geben. Zentraler Bestandteil ist dabei die Dokumentation von ein oder zwei der folgenden Veranstaltungsformate: Bielefelder Poet in Residence, Heidelberger Kinderliteraturgespräch, Oldenburger Poetikvorlesung oder Paderborner Kinderliteraturtage. Ergänzt werden diese Dokumente von essayistischen und verschiedenen (fach-) wissenschaftlichen Beiträgen, um ein möglichst umfassendes Bild des jeweiligen Gesamtwerks zu geben.

Auch der von Petra Josting und Iris Kruse herausgegebene Band zu Anja Tuckermann folgt dieser Idee, die literarische Produktion der Autorin aus verschiedenen Perspektiven darzustellen. Dabei werden die Blickwinkel zum einen durch die unterschiedliche Herangehensweise der Betrachtenden bestimmt, die sich etwa als Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler, Didaktikerinnen und Didaktiker oder als ehemalige Kolleginnen und Kollegen zur Autorin und ihrem Werk äußern, zum anderen wird von den Herausgeberinnen durch die Gliederung des Bandes eine zusätzliche Perspektivierung vorgenommen, die zentrale Themen der literarischen Produktion von Tuckermann benennt.

Die erste unbetitelte Sektion des Bandes widmet sich der Schriftstellerin Anja Tuckermann. Neben biographischen Eckdaten steht die Frage nach der Motivation ihres Schreibens im Fokus. In der Dokumentation des Paderborner Autorinnengesprächs aus dem Jahr 2018 kommt zunächst Tuckermann selbst zu Wort. Julian Kanning ermöglicht anschließend mit einer literaturwissen-schaftlichen Werkschau die Außenperspektive, bevor die Autorin erneut – diesmal in Form eines Essays – selbst erläutert Wie [sie] zum Schreiben kam.

Im Abschnitt Dokumentarische Fiktionen – Nationalsozialismus berichtet zunächst wieder die Autorin über die Entstehung der Romane Muscha und Denk nicht wir bleiben hier! Diese Erinnerungen und Reflexionen des Schreibprozesses werden durch Cathrin Eckerleins Überlegungen zu Erzählstrategien in dokumentarischer Fiktion, konkret in Denk nicht wir bleiben hier!, ergänzt. Heidi Nenoff widmet sich schließlich Tuckermanns Jugendsachbuch zur studentischen Widerstandsgruppe Weiße Rose. Nenoff betrachtet Wir schweigen nicht in unterschiedlichen Zusammenhängen, z. B. im Kontext der Vielzahl von Publikationen zur Weißen Rose sowie in Zusammenhang mit literaturwissenschaftlichen Konventionen und Erwartungen an ein Jugendsachbuch. Dabei versucht Nenoff die inhaltlichen und konzeptionellen Besonderheiten von Tuckermanns Sachbuch herauszustellen.

Dem Aspekt der Interkulturellen Begegnungen widmen sich insgesamt drei Beiträge. Anhand unterschiedlicher Beispiele werden Mehrsprachigkeit, Hybridität und Interkulturalität in Tuckermanns Werk thematisiert und Möglichkeiten aufgezeigt, Ein Buch für Yunus (Cornelia Zierau), Nusret und die Kuh (Alexandra und Michael Ritter) sowie Alle da! (Sarah Terhorst) im interkulturell orientierten Literaturunterricht zu behandeln.

Jochen Heins und Iris Schäfer lesen in ihren jeweiligen Beiträgen Tuckermanns Adoleszensgeschichten. Dabei schließt Heins an poetologische Überlegungen von Nils Mohl an, der die Kategorien Glaube, Liebe und Hoffnung als zentrale Leerstellen markiert, deren Inhalte es im Prozess des Erwachsenwerdens auszuhandeln gelte. Während Heins diesen Kategorien im Werk Tuckermanns nachspürt, analysiert Schäfer in ihrem Beitrag, wie die Konflikte, mit denen sich Heranwachsende konfrontiert sehen, in Psychosen und Neurosen der Figuren in ausgewählten Romanen deutlich werden.

Mit der Darstellung von Krisen und Problemen beschäftigen sich auch die Beiträge der Sektion Realistisch-problemorientierte Kinderliteratur. Dabei geht es Alina Wanzek um das Potential, das intermediales und produktives Arbeiten mit solchen Texten im Literaturunterricht entfaltet. Sarah Terhorst widmet sich dem Aufwachsen unter zum Teil lebensbedrohlichen Bedingungen aus der Perspektive einer Romanfigur. Ausgehend von der Frage nach den Risikofaktoren sowie den schützenden Elementen ihres Lebens erarbeitet sie in ihrem Beitrag ein Resilienzprofil der Protagonistin Adile.

Die beiden letzten Abschnitte des Sammelbandes heben den Blick über den gedruckten Text hinaus. So wird Anja Tuckermann in der Sektion Jenseits von Prosa und Roman als Dramatikerin (Henning Fangauf), Radiomoderatorin (Uta Beth) und als Leiterin von Schreibwerkstätten (Johanna Dickfeld und Michael Ritter) vorgestellt. Abschließend werden Begegnungen mit der Autorin didaktisch perspektiviert. Iris Kruse und Sarah Terhorst berichten von der Vorbereitung von Paderborner Grundschulkindern auf die Begegnung mit Anja Tuckermann. Diese erfolgt anhand eines besonderen Lehr- und Lernarrangements, dessen inhaltlichen Schwerpunkt der Roman Adile. Ein Mädchen aus Istanbul bildet und das didaktisch darauf fokussiert, den Schülerinnen und Schülern einen Einblick in die Produktionsseite literarisierter Biographie zu geben. Die Kinder hätten am Ende dieser Lerneinheit  mit Empathie über andere Menschen nachgedacht und verstanden, dass der Stoff einer literarischen Biographie aus dem Leben erwachse. Sie erwarteten nach der Beschäftigung mit literarisierten Lebensgeschichten nicht mehr bloß "irgendeine Schriftstellerin" (S. 357) zu einer Lesung, sondern seien neugierig auf die Schriftstellerin, die ein Buch über ihre Schulfreundin verfasst habe. Diese pointierte Vorbereitung ist auch aus der abschließend dokumentieren Auswahl von Kinderfragen und den Antworten der Autorin herauszulesen.

Julian Kanning und Bern Maubach stellen in derselben thematischen Sektion abschließend das Format Fertige Texte – Neue Gedanken vor, das angehende Deutschlehrkräfte und Kinder- und Jugendbuchautoren sowie -Autorinnen zusammenbringen soll.

Kritik

Der vorgestellte Sammelband ist klar gegliedert und bringt bereits in seiner Konzeption zentrale Aspekte des Werkes und der Poetologie Anja Tuckermanns zur Sprache. Die multiperspektivische Konzeption des Bandes, die einen Wechsel von unterschiedlichen Lektüren – Selbstlektüre, literaturwissenschaftliche bzw. didaktische Analyse und essayistische Betrachtung – vorsieht, ist durchaus interessant, die Perspektivwechsel sind jedoch eher durch einen Wechsel der Art des Sprechens über den Gegenstand charakterisiert als durch inhaltliche Kontroversen oder Differenzen in der Herangehensweise an diesen Gegenstand oder seine Einordnung. Produktive Spannungen, wie sie aus solchen Abweichungen der Lektüren oder durch unterschiedliche Ansätze in Bezug auf die Verortung von Tuckermanns Werk entstehen könnten, werden selten generiert. Insgesamt ist der Wechsel von Sprachstilen und Textsorten für die Lektüre zwar sehr angenehm und sorgt für Abwechslung, in einigen Sektionen, darunter besonders die einleitende Sektion sowie die Sektion zur dokumentarischen Fiktion, resultieren aus der multiperspektivischen Anlage des Bandes jedoch Redundanzen, die eher ermüdend wirken. So doppeln sich beispielsweise in den Beiträgen Tuckermanns zu ihrem Schreiben – einmal in Form eines Autorinnengesprächs, einmal in Gestalt eines selbst verfassten Essays – die Aussagen, und auch der ergänzende literaturwissenschaftliche Blick auf das Gesamtwerk schafft keine neuen Einsichten, sondern unterstreicht im Wesentlichen den Bericht der Autorin.

Aufgrund der thematisch sehr einschlägigen Gliederung ermöglicht es der Band, sich effektiv wahlweise einen Überblick über ausgewählte Aspekte im Werk der Autorin oder über einzelne Texte zu verschaffen. Darüber hinaus bieten einige Beiträge Ideen für die konkrete Unterrichtsplanung: Alexandra und Michael Ritter präsentieren beispielsweise Bausteine eines Unterrichtssettings zu Nusreth und die Kuh, die verschiedene Möglichkeiten aufzeigen, sich im Rahmen des interkulturell ausgerichteten Deutschunterrichts in der Grundschule mit diesem Bilderbuch kreativ und produktiv zu befassen. Sarah Telhorst zeigt, wie durch kursorisches Erkunden von Alle da! ein "kunterbunte[r] Dialog" über das "kunterbunte Miteinander" (beide Zitate S. 219) entstehen kann. Und der Aufsatz von Telhorst und Iris Kruse zur Vorbereitung von Grundschulkindern auf ein Autorinnengespräch dokumentiert eine mögliche Herangehensweise an diese besondere Situation der Begegnung und stellt unterstützende Materialen in Form von Arbeitsblättern vor.

Fazit

Der Sammelband bietet eine gute Möglichkeit, das Werk Anja Tuckermanns kennenzulernen und aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Wählt man einzelne der angebotenen Zugänge aus, öffnen sich interessante Einblicke, die das Bild der Autorin konturieren. Bedauerlicherweise leidet der Band jedoch stellenweise unter einer der mehrfachen Perspektivierung geschuldeten Redundanz.

Wer nach Informationen zu Anja Tuckermann, ihrer Arbeitsweise und ihrem Werk oder gar noch konkreten Ideen für die Lektüre einzelner Werke mit Schülerinnen und Schülern sucht, dem sei dieser Sammelband unbedingt empfohlen. Wer sich von einer multiperspektivischen Herangehensweise produktive inhaltliche Kontroversen verspricht, wird diese weniger finden. Grundsätzlich empfiehlt sich der Band aufgrund der dargestellten Problematik zur gezielten kursorischen Lektüre. Hierfür bietet seine sorgfältige Konzeption beste Voraussetzungen.

Titel: Anja Tuckermann. Bielefelder Poet in Residence 2017. Paderborner Kinderliteraturtage 2018
Herausgeber:
  • Name: Josting, Petra
  • Name: Kruse, Iris
Erscheinungsort: München
Erscheinungsjahr: 2020
Verlag: kopaed
ISBN-13: 978-3-86736-499-7
Seitenzahl: 406
Preis: 18,00 €
Josting, Petra/Kruse, Iris: Anja Tuckermann. Bielefelder Poet in Residence 2017. Paderborner Kinderliteraturtage 2018