Inhalt

Manuela Kalbermatten legt einen Text von über 600 Seiten vor. Die Monografie, die als Dissertation an der Universität Zürich angenommen wurde, fasst jahrelange Vorarbeiten der Autorin im Themenfeld des Feminismus und der Erzähltheorie zusammen. Das Subgattung future-fiction wird ausgewählt, um die Gestaltungsvielfalt von Gesellschaft und sozialer Rolle zu analysieren. Die dystopischen, utopischen und apokalyptischen Texte eignen sich deshalb besonders für eine solche Untersuchung, weil sie mit Vor- und Rückblicken arbeiten, gesellschaftliche Neuanfänge setzen und vor dieser Kulisse die Figuren gestalten können. Die jugendlichen Heldinnen gehen in den Kampf für eine bessere zukünftige Gesellschaft und diesen bestehen sie nicht selten in der Unterstützung durch einen männlichen Freund oder Liebhaber. Damit wird deutlich, dass die Lesemotivation durch die Verwendung von Abenteuer- und Liebesromanstrukturen geweckt wird.

Mit Hilfe textnaher Analysen mehrerer aktueller Erzählungen bzw. Erzählserien dieses Formats arbeitet Kalbermatten die Darstellung der Frauen- und Männerfiguren heraus und stellt diese Ergebnisse in einen Bezug zu den aktuellen Feminismus-Debatten und deren Spielarten. Beispielhaft zu nennen sind folgende untersuchte Texte: Beth Pfeffers Last Survivers (2006, 2008, 2010, 2013), Jennifer Benkaus' Dark Canopy und Dark Destiny (2012,2013), John M. Cusicks Girl Parts (2010).

Dabei wird deutlich, dass die heroisch wirkenden weiblichen Protagonisten fast regelhaft durchaus traditionelle, also konventionelle personale Merkmale tragen, die der emanzipativen Kraft ihrer führenden Rollen im Text entgegenstehen und die Selbstbestimmung nehmen. Kalbermatten betont zudem, dass der Kampf gegen die männlichen Inhaber gesellschaftlicher Herrschaft in keinem Fall in eine revolutionäre Phase übergeht. Vielmehr wird die gesellschaftliche Zukunft entweder nicht mehr gestaltet oder die Erzählung endet mit der Darstellung des persönlichen Arrangements der Protagonisten in die neuen Verhältnisse.

Kritik

Kalbermatten konstatiert, dass dieses Genre seit etwa zwei Jahrzehnten hohe Auflagen verzeichnet und auch filmisch immer wieder umgesetzt wird. Aus der Beobachterperspektive, die sie gegenüber dieser Entwicklung einnimmt, kommt sie zu dem Schluss, dass den jugendlichen Heldinnen für die Phase ihrer Adoleszenz eine hohe Leistungsbereitschaft unterstellt wird, die bis zur Selbstaufgabe führen kann. Die für den erfolgreichen Kampf notwendigen Tugenden werden aber nicht an eine Gesellschaftsutopie angebunden, in der sie das Verhältnis von Mann und Frau neuartig bestimmen könnten. Vielmehr verlieren sich diese Tugenden der adoleszenten Phase, also ein heroisches  Selbstbewusstsein, ein kämpferisches Eintreten für Gleichheit und Gerechtigkeit, eine  verblüffende Bereitschaft zur Selbstaufopferung und ein starkes, moralisch-politisch orientiertes  Handeln zugunsten der  konkreten Gemeinschaft, und es werden in der folgenden Lebensphase traditionelle Rollenmerkmale akzeptiert.

Nicht immer wird die weibliche Figur als Heldin gestaltet, gelegentlich wird sie auch als jungfräuliche, naturbelassene Körperlichkeit vorgestellt, die für die männlichen Protagonisten in solchem Maß attraktiv wirkt, dass sie ihre eigenen fehlgeleiteten Zielvorstellungen aufgeben und sich dieser diffusen Naturbelassenheit hingeben. Kalbermatten weist zu Recht darauf hin, dass mit diesem narrativen Arrangement einerseits eine Kritik an der technisch-wissenschaftlichen Orientierung des globalen Wirtschaftens erfolgt, andererseits aber die personalen Merkmale der weiblichen Figuren z. T. so diffus bleiben, dass sie für eine Vorbildfunktion nicht taugen. So ist zum Beispiel die Protagonistin der Hunger Games, Katniss, eine solche Heldenfigur, aber ihre Aggressivität, ihre situative Umsicht und Anpassungsfähigkeit in Kampfsituationen zeigen sie als aggressive Individualistin, die aber zur Lösung von Fragen, die die Gemeinschaft betreffen, auf den Rat älterer Frauen angewiesen ist. Bedenklicher aber als diese narrativen Inkonsistenzen empfindet Kalbermatten die Tatsache, dass die Heldinnen der untersuchten future-fiction-Titel im Rahmen einer Vermarktung erscheinen, die Kalbermatten wie folgt beschreibt (S. 413):

Wenn schon die  Texte selbst die individuelle 'Spielerin' ins Licht rücken, und zwar auf  eine Weise, die diese zumindest  zeitweise  als glamouröse, machtvolle Individualistin  erscheinen lässt, so wird  dieser Effekt  in Marketing, Merchandising und Rezeption potenziert: In Anzeigen und Trailern, auf Covern, Filmplakaten, Charakterpostern und Fanartikeln, aber auch  in vielen Fanfiction-, Fan-Art- und  Medienbeiträgen wird oft geradezu enthusiastisch auf  den glanzvollen, ermächtigenden  und/oder  emanzipatorischen  Effekt der 'toughen' neuen Heldinnen, auf ihre Entschlossenheit und Durchsetzungskraft, ihre glamourösen Outfits und  nicht zuletzt auf ihre gestählten Körper, sportlichen Auftritte und entschlossenen Minen fokussiert.

Kalbermatten schöpft aus einem breiten Wissensfundus, den sie auch darstellt und plausibel in den Text ihrer Dissertation einarbeitet. Allerdings wäre es für die Lesbarkeit der Monografie und die Fokussierung auf die zentralen Ergebnisse wünschenswert gewesen, Kürzungen vorzunehmen. Für eine Leserschaft, die an ideologiekritischen Positionen und normativen Erläuterungen des Emanzipationsbegriffes interessiert ist, fehlen dieser Arbeit die theoretischen Hintergründe. Insofern ist eine gewisse Schwäche in der Kritik an dem Genre zu vermerken.

Fazit

Der umfangreiche Text ist aus literaturwissenschaftlicher und kulturtheoretischer Sicht ein gelungener Beitrag. Ob sich das diesem Format unterstellte Wirkungspotential empirisch belegen lässt, müsste mit nachfolgenden Untersuchungen ermittelt werden. In jedem Fall schließen sich an diese Arbeit zahlreiche Aufgaben an, deren Ergebnisse auch aus literaturdidaktischer Sicht von Interesse sind. Zu nennen wären zum Beispiel die Beantwortung der Frage, ob es tatsächlich zu der nachhaltigen Identifikation mit den weiblichen Helden kommt, ob also ein Brückenschlag zwischen dem Leseerlebnis und dem eigenen zukünftigen Handeln eintritt. Die untersuchten future fiction-Texte entwerfen zugleich gesellschaftliche Kulissen, meistens diktatorische Machtverhältnisse, die bestimmte Wertvorstellungen der Lesenden verletzen. Ob diese meistens bürgerschaftlichen Prinzipien von Gleichheit und Solidarität aber bei den jugendlichen Lesenden bereits eine begrifflich hinreichende und damit auch theoretische Absicherung erworben haben, darf bezweifelt werden, wenn man den Erkenntnissen der Politik-Didaktik folgt. Eine ideologiekritische Haltung gegenüber beiden von Kalbermatten thematisierten Aspekten – Gesellschaft und Geschlecht – setzt bei den Lesenden eine gedankliche und begriffliche Abstraktion ihrer eigenen Lebenswelt voraus, durch welche die Engführung der heroischen Figuren erkannt werden kann. Welche Voraussetzungen im Verlauf der Adoleszenz dazu unterrichtlich angeboten und erworben werden müssen, müsste - wohl im Fächerverbund - untersucht werden.

Titel: "The match that lights the fire". Gesellschaft und Geschlecht in Future-Fiction für Jugendliche
Autor/-in:
  • Name: Kalbermatten, Manuela
Erscheinungsort: Zürich
Erscheinungsjahr: 2020
Verlag: Chronos
ISBN-13: 978-3-0340-1573-8
Seitenzahl: 648
Preis: 68,00 €
Kalbermatten, Manuela: