Andreas Wicke: Lieber Thilo Reffert, Menschen, die um 1970 geboren sind, bezeichnet Annette Bastian als eine Generation der Kassettenkinder, als Beispiele nennt sie Die drei ???, TKKG oder Die fünf Freunde. Diese Darstellung bezieht sich jedoch auf eine Kindheit in der BRD. Sie sind 1970 in Magdeburg geboren und dort aufgewachsen; wie sieht eine Kassettenkindheit in der DDR aus?

Thilo Reffert: Bei mir waren es die Litera-Schallplatten mit den Märchen-Hörspielen, außerdem Alfons Zitterbacke und Ottokar Domma, zwei Kinderfiguren, Schelme, in den zahlreichen Geschichten von Gerhard Holtz-Baumert und Otto Häuser. Aber das wichtigste waren diese Märchen, ich hatte die auf Platte und auf Kassette überspielt und habe sie wieder und wieder und wieder gehört, manche Passagen kann ich heute noch auswendig: "Spazieren nennst du das? Kriechen solltest du das nennen!", sagt Eberhard Esche als Hase zu Kurt Böwe als Igel. Und wenn ich sie heute wieder höre – sie sind auf CD erschienen – ist das wie ein Besuch in meiner Kindheit. Das waren ja tatsächlich ausgewachsene Hörspiele, ich würde von heute aus sagen, auf höchstem Niveau, da sprachen die besten Schauspieler des Landes und die Geschichten waren dramaturgisch unheimlich klug gestaltet. Vielleicht kommt daher sogar meine Neigung zum Hörspiel.

Neben den Kinderhörspielen schreiben Sie auch für Erwachsene und haben in beiden Segmenten die jeweils renommiertesten Preise bekommen. Welcher Teil Ihrer Hörspielarbeit ist Ihnen wichtiger?

Ich würde die Schwerpunkte nicht dies- oder jenseits einer Altersgrenze verorten. Denn für Kinder muss man genauso schreiben wie für Erwachsene – nur noch besser. Sagt Maxim Gorki, heißt es. Oder war es Samuel Marschak oder – entsprechend abgewandelt – Konstantin Stanislawski? Wenn man diesen Ausspruch auf links dreht, also von der Vorgabe ins Resümee wendet, heißt das, es ist schwieriger, für Kinder zu schreiben als für Erwachsene. Leider ist das nicht immer allen Beteiligten klar. Und wenn Sie mich jetzt an die Schwerpunkte in Ihrer Frage erinnern, da kann ich kaum was dazu sagen. Ich habe das Gefühl, ich schreibe im Blindflug, immer auf den nächsten Text konzentriert, ich habe gar keine Zeit zu navigieren.

Bei Ihren Kinderhörspielen fällt auf, dass gesellschaftliche Themen behandelt werden, die Ihnen am Herzen zu liegen scheinen, Umweltprobleme in Commander Jannis (DLR 2011) oder das Thema Inklusion in Mr. Handicap (DLR 2016). In einer Rede vor angehenden Lehrerinnen und Lehrern plädieren Sie jedoch ausdrücklich "für ein genießendes Lesen". Trifft das auch auf das Hören zu? Wo ordnen Sie sich als Autor zwischen 'delectare' und 'prodesse', zwischen Unterhaltung und Belehrung ein?

Was soll ich sagen? Erwischt! Der reflektierende Autor plädiert für den Genuss, während der schreibende Autor immerzu aufklären will. Dem entsprechen im Publikum zwei Lager: einerseits die Kinder, die hoffen, dass sie etwas Spaß haben, und andererseits die Gate-Keeper, die möchten, dass 'ihre' Kinder etwas lernen. Es ist ja so, dass Kinder fast nur durch die Vermittlung von Erwachsenen an Kunst gelangen: Eltern kaufen die Bücher, suchen die Hörspiele aus, Lehrer buchen die Theatervorstellungen. Diese beiden Lager sind wie Scylla und Charybdis, da muss man durch. Aber im Gegensatz zu Odysseus und seinen Ruderern darf ich ruhig hier und da mal anstoßen. Und was die Themen angeht, das ist oft auch eine Etikettierung. Man könnte Commander Jannis auch als Hörspiel über Verantwortung identifizieren. Oder als die Komödie einer eskalierenden Hausaufgabe.

Oft liest man, dass ein gutes Hörspiel ohne Erzählinstanz auskommen muss. Bei Ihnen gibt es allerdings meistens Erzähler, und zwar durchaus spektakuläre: Eine Brotdose berichtet aus ihrem Leben (Fünf Gramm Glück, DLR 2015), ein Wombat erzählt von einer ungewöhnlichen Reise, (Australien, ich komme, DLR 2010), Leon und Leonie streiten mit einem – natürlich fiktiven – Geschichtenerzähler namens Thilo Reffert, ob es sie ohne seine Erfindung überhaupt gäbe (Leon und Leonie, SWR/WDR 2013), Nina und Paul erzählen aus je unterschiedlicher Perspektive (Nina und Paul, DLR 2011) und Ihr Pinocchio (DLR 2014) wird nicht, wie bei Carlo Collodi, von einem auktorialen Erzähler, sondern von einem Holzwurm erzählt. Kommt ein gutes Hörspiel also doch nicht ohne Erzählinstanz aus?

Ich würde für das Hörspiel sagen: Erzählinstanz ja, Erzähler ungern. Ich habe auch schon Erzähler beschäftigt, in Mr. Handicap zum Beispiel. Aber als Hörspielautor ist man ja nicht Schriftsteller, sondern Sprachsteller – man schreibt gesprochene, zu sprechende Worte. Und wozu? Wozu die Worte? Um Inhalte zu vermitteln? Nein, um Haltungen zu zeigen, um schwierige Situationen herbeizuführen, um Emotionen zu ermöglichen. In guten Texten verdampft alle Information und erzeugt Druck, Spannung, Energie. Nur der Erzähler hat nichts zu spielen, er hat ja gerade keine Haltung zum Text, er ist nur ein Ansager, ein Sprecher. Und bloße Informationsvergabe erzeugt Langeweile. Bei bloßer Information schalten wir alle ab, Kinder wie Erwachsene. Deshalb geht die Tagesschau 15 Minuten und Pinocchio 52. Deshalb versuche ich, das Erzählen zu subjektivieren, den Erzähler zur Figur zu machen.

Während man in Romanen die Möglichkeit der indirekten Rede hat und damit – zumindest zum Teil – Kinder- und Jugendsprache umgehen kann, müssen die Kinder sowohl auf der Bühne als auch im Hörspiel jedes Wort sprechen. Wie kreieren Sie eine junge Sprache, die nicht manieriert und angestrengt wirkt, die nicht nach kürzester Zeit veraltet und mit der Sie auch selbst – künstlerisch – zufrieden sind?

Sie sagen es, es geht weniger um das Schaffen als um das Veralten dieser Sprache. Es ist nämlich keine Kunst, Figuren so sprechen zu lassen, wie man es heute auf Schulhöfen oder in der Freizeit von Kindern hören kann. Aber wer sich in diese Sprache begibt, kommt darin um. Sie altert unvorstellbar schnell, ich würde sagen, im Wochentakt verfallen die Vokabeln und Wendungen. Und dann ist man so unfassbar out, wie man es heute selbst mit 'urst' nicht schafft. Nun kann man aber nicht beliebig weit in die Kunst ausweichen wie bei Erwachsenen, wo man auch obskur, enigmatisch und hermetisch schreiben und den hermeneutischen Totalschaden als Absicht ausgeben kann. Wenn man das nicht will, hat man eine Grenzgestaltungshöhe, für Kinder wie für Erwachsene. Man kann darüber gehen, wenn man bereit ist, auf Verstanden-Werden zu verzichten; manche sind das, ich nicht. Ich will, dass meine Geschichte verstanden wird – bei allem, was wir über die Offenheit von Kunstwerken natürlich wissen.

In Faustinchen (SWR 2017) bekommt Faust eine Tochter, die zur Hauptfigur wird und Goethes Geschichte ganz ordentlich durcheinander bringt, Pinocchio (DLR 2014) lassen Sie, wie gesagt, aus der Sicht eines Holzwurms erzählen. Was reizt Sie an klassischen Stoffen?

Peter Hacks hat mal gesagt, bei der nächsten Bearbeitung kommt er um – er muss jetzt zwei, drei eigene Sachen schreiben. Das ist interessant, dass er da einen Unterschied macht, denn natürlich kommt auch bei Bearbeitungen etwas sehr Eigenes heraus. Man muss ja einen Dreh finden, wie man klassische Stoffe heute erzählen kann. Wenn es gelingt, kann man den Klassiker im Alltag von heute aufschlagen lassen. Das macht riesigen Spaß, solche Kollisionen zu arrangieren. Und natürlich ziehen die Namen in der Werbung und im Verkauf – es ist ja kein Zufall, dass gerade die Produktionen, die Sie genannt haben, Faustinchen und Pinocchio, auf CD erscheinen. Andererseits kann man aktuelle Konfliktzonen, wie sie z.B. die neuen Medien kreieren, nur in Originalstoffen anpacken: Milas Welt musste ein Original sein, das ging in keiner Bearbeitung.

Kinderkrimis sind mittlerweile ein nicht unerhebliches Marktsegment, schaut man auf die Erfolge der ARD Radio Tatort-Folgen, so läge es doch nahe, auch Krimihörspiele für junge Hörerinnen und Hörer zu schreiben?

Ja, es gibt da große Vorbilder, wenn ich an Kalle Blomquist denke oder Emil und die Detektive. Auch Ottokar und Alfons haben sich detektivisch betätigt. Es gibt eine unübersehbare Zahl von Büchern, die als Krimis für Kinder etikettiert werden. Aber sehen Sie, warum fängt (fast) jeder Krimi mit einer Leiche an? Um den Betrag zu setzen, die Höhe der Gefühle. Da ist jemand so weit gegangen, einen anderen Menschen zu töten. Das sichert dem Krimi-Autor einen Mindestbetrag, den er zu verhandeln hat. Es geht nicht um die gestohlenen Sammeltassen von Tante Frieda, sondern um den gewaltsamen Tod eines Menschen. So eine Gefühlshöhenkontrolle braucht man für die Kinderliteratur nicht. Oder anders gesagt, man kann Kindern mehr zutrauen. Niemand muss sterben, damit Kinder einer Geschichte folgen. Oft meint das Etikett 'Krimi' ja nur, dass mit dem Mittel der Finalspannung gearbeitet wird, während deviantes oder gar delinquentes Verhalten, die Verletzung gesellschaftlicher Normen kaum eine Rolle spielt.

Nina und Paul erscheint 2010 als Roman, wird 2011 als Hörspiel produziert und 2012 als Theaterstück uraufgeführt. Die Geschichte ist immer die gleiche, dennoch muss man sie jeweils anders erzählen. Wie wichtig ist Ihnen die literarische bzw. mediale Form?

Ich würde sagen, ich erzähle Geschichten; in welchem Medium, ist zweitrangig. Natürlich gibt es Geschichten, die verweigern sich der crossmedialen Mehrfachverwertung. Die Sicherheit einer geschlossenen Fahrgastzelle ist ein O-Ton-Hörspiel, das weder auf eine Bühne noch zwischen zwei Buchdeckel passt. Aber sonst erzähle ich Geschichten mit einem Geschehen, mit Figuren, mit verstehbaren, oft kausalen Abläufen, und diese Art eignet sich relativ gut für die Umsetzung in verschiedenen Medien. Man hatte solche Mehrfachauswertung früher weniger nötig, da gab es noch Übernahmen, ein Repertoire und Longseller. Das ist alles futsch, nun muss man sich kümmern.

Als Hörerin oder Hörer kennt man nur das fertige Hörspiel, nicht jedoch das von Ihnen verfasste Skript. Wie konkret schreiben Sie? Wie konkret oder medienspezifisch sind Ihre Vorstellungen?

Wenn man Hörspiele und Theatertexte schreibt, weiß man, dass da eine Regie zwischen dem Text und dem Publikum steht, mit der man rechnen muss, aber auch rechnen kann. (Das ist übrigens beim Buch überraschend anders.) Dabei bleibt die Hörspielinszenierung nach meiner Erfahrung näher am Text als eine Theaterinszenierung. Dort kommt einfach die nonverbale, die optische Kommunikationsebene dazu, die hat man im Hörspiel nicht. Dort hat man mehr Zwänge, etwa, dass es ab drei Figuren schwer wird, die Stimmen auseinander zu halten. Aber man hat auch andere Möglichkeiten. Im Hörspiel kann ich 500 Schweine in den Text schreiben – und die kriegt das Publikum auch. Versuchen Sie das mal im Theater!

Durch Steven Spielbergs Jurassic Park sind Sie, so haben Sie in der Zeitschrift Maske & Kothurn erläutert, zum Hörspiel gekommen. Weil die Dinosaurier anfangs nur zu hören und nicht zu sehen sind. Reizt Sie das Medium Film wirklich gar nicht?

Sie haben Recht, der Film und ich sind keine Freunde. Aber das liegt nicht an mir. Sehen Sie, das Theater, das Hörspiel und das Kinderbuch, die vertrauen mir, die lassen mich machen, und dann wird es auch. Film vertraut mir nicht, Film quatscht mir rein, Film nervt. Weil beim Film so viele Leute sind, die ganz genau wissen, wie es geht. Schauen Sie nur all die Bücher an, die über das Drehbuchschreiben verfasst werden und all diese Drehbuchschulen. Das hatten wir im Theater zuletzt vor 250 Jahren, solche normativen Ästhetiken. Ich misstraue diesen Produktionsgewissheiten, und der Film spürt das; so bleiben wir uns fremd.

Meine erste Mail an Sie habe ich an einem Montag um 13:51 Uhr geschrieben, Ihre Antwort kam am selben Tag um 13:55 Uhr, also vier Minuten später. Spielt sich das Leben eines Autors heute zum großen Teil am Computer ab oder wo und wie arbeiten Sie?

Schrecklich! Neuerdings lese und beantworte ich E-Mails auch unterwegs. Dagegen habe ich mich lange gesperrt, aber es wird nicht mehr akzeptiert. Wer zwei Tage nicht auf eine E-Mail antwortet, den sucht man ja bei den Todesanzeigen!

Verraten Sie, was als nächstes Projekt im Bereich Kinderhörspiel geplant ist?

Im Herbst erscheint Pinocchio auf CD. Und mein nächstes Kinderhörspiel im Deutschlandfunk … spielt nicht auf der Erde.

Herzlichen Dank!

 

Foto: gezett

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