Das kurze und für das Fachlexikon ansonsten typische kurze Explikat fehlt an dieser Stelle. Diese Leerstelle ist jedoch nicht zufällig bzw. aus Faulheit entstanden, sondern soll vielmehr auf die Schwierigkeiten verweisen, die dem Begriff des Erzählers eingeschrieben sind. Dass man sich mit diesem bewussten Setzen einer Leerstelle durchaus in guter Gesellschaft befindet, macht auch Jochen Vogt deutlich, wenn er ausführt: 

Der Begriff "Erzähler" aber rührt selbst an eine zentrale und nach wie vor umstrittene Frage der Erzählforschung. Konkurrierende theoretische Konzepte, unscharfe Begrifflichkeit und die häufige Vermischung analytischer und programmatischer Aussagen lassen sie besonders verwickelt und eine klare Antwort fast unmöglich erscheinen. (Vogt 2006, S. 42)

Deutlich werden diese Schwierigkeiten schon in der Begriffsbestimmung. Sollte man von dem Erzähler oder der Erzählerin sprechen? Von Erzählinstanzen? Erzählsituationen? Oder, um Verwechslungen mit anderen literarischen Figuren zu vermeiden, von Erzählfunktionen? (vgl. Martínez und Scheffel 2012, S. 48)  

Allerdings trifft auch letztere Begrifflichkeit nicht auf ungeteilte Zustimmung. So verwendet sich Vogt gegen diese und führt an: 

Am ehesten könnte man diese Aufgabe mit der Rolle und Funktion des Spielleiters am Rande der Bühne, des Regisseurs vergleichen, der ja in aller Regel nicht mit dem Dramatiker selbst identisch ist. Diese metaphorische – und gewiss unzulängliche – Vorstellung der Rolle eines fiktiven "Erzählers" (die sich als Rolle des Biographen, Chronisten, Psychologen usw. konkretisieren kann) wird der ambivalenten Natur dieses Zwischenwesens jedenfalls eher gerecht als seine Überhöhung zum Romanfigur oder seine Degradierung zum bloßen Effekt der Erzählfunktion. (Vogt 2006, S. 49-50) 

Doch es ist nicht nur die Begrifflichkeit, die Schwierigkeiten bereitet, sondern es sind bisweilen die verschiedenen Erzählinstanzen selbst, die sich nicht an eine Einteilung in Figur, Stimme oder Funktion halten. So wenden sich einige unter ihnen in Form von Apostrophen und metaleptisch an die Lesenden oder Zuhörenden, treten ebenso metaleptisch in den fiktiven Welten auf, inszenieren sich als Autoren und zuverlässig sind sie auch nicht immer. Bisweilen leihen Autoren wie Michael Ende im Hörspiel den Erzählerfiguren oder -stimmen auch noch ihre eigene, um die Bestimmung noch ein wenig schwieriger zu gestalten. An dieser Stelle wird trotz dieser Schwierigkeiten – oder gerade wegen dieser – das fehlende Explikat nachgeschoben: 

Erzähler oder – etwas neutraler – Erzählstimme: Narrative und fiktive Instanz im Rahmen einer Geschichte, die diese oder zumindest einen Teil dieser erzählt.

Die Konzepte von Franz Karl Stanzel und Gérard Genette

Die Frage nach dem "Wer spricht"? (Genette 2010, S. 119), die hinter dieser Definition steht steht, kann auf sehr unterschiedliche Weise beantwortet werden. Zwei zentrale und konkurrierende Modelle sollen im Rahmen dieses Lexikons als Antwortmöglichkeiten herausgestellt werden. So beantwortet Gérard Genette diese Frage mit den Begriffen homo- und heterodiegetisch und stellt diesen das Konzept der Fokalisierung an die Seite, während Franz Karl Stanzel an ihre Stelle die Begriffe der Ich-Erzählsituation, der auktorialen Erzählsituation und der personalen Erzählsituation setzt. 

Mit der Vorstellung der beiden Konzepte soll der Eindruck vermieden werden, 

als sollte die Auseinandersetzung zwischen den Befürwortern des Stanzel'schen 'Typenkreis der Erzählsituationen' und seinen frankophilen Kritikern in einen veritablen Glaubensstreit ausarten – Züge eines Gerangels zwischen PC- und Apple-usern hatte sie allemal, wenn auch an manchen Instituten den Studenten […] die Wahl erspart blieb, weil schon höherenorts entschieden worden war, nach welcher Fasson sie selig zu werden hätten – eben doch: cuius regio, eius religio. (Bode 2011, S. 143)  

Fortgetragen werden soll dieser Streit somit nicht im Rahmen von Fachlexikaeinträgen und auch die Wahl von Jutebeuteln als 'Kampfschauplatz' scheint an dieser Stelle nur bedingt günstig gewählt, auch wenn Genette diese 'Schlacht' zumindest auf dem Marktplatz Amazon durchaus zu gewinnen scheint. 

Genette vs. Stanzel? – Vor- und Nachteile der beiden Konzepte

Dass sich das Fachlexikon als weiterer Austragungsort dieser Auseinandersetzung nur bedingt eignet, mag auch daran liegen, dass beide Modelle durchaus problembehaftet sind. So spricht gegen Stanzels Modell vor allen Dingen die Tatsache, dass der Typenkreis, den er eingeführt, verbessert und angepasst hat, die für die narratologische Analyse zentralen Elemente der Ordnung, der Dauer, des Ortes und des Zeitpunkt des Erzählens vernachlässigt (vgl. Martínez und Scheffel 2012, S. 96). Zudem bietet gerade die Trennung von Stimme und Wahrnehmen oder der Fragen von "Wer spricht?" (Genette 2010, S. 119) und "Wer nimmt wahr?" (ebd.), die sich in Genettes Modell im Gegensatz zu Stanzels findet, wichtige Ansatzpunkte für die Analyse. Allerdings ist Stanzels Modell oder Typenkreis laut Bode "genial wie einfach, elegeant und effizient" (Bode 2006, S. 145) und ermöglicht es so, eine Vielzahl an Texten systematisch und effizient zu erfassen (vgl. ebd.). 

Gerade diese Systematik und Effizienz scheinen Aspekte zu sein, an denen Genette gerade in Bezug auf seine Begriffswahl hin und wieder scheitert. Ein Umstand, den er selbst mehr oder weniger entschuldigend einräumt: 

Diese Laxheit wird sicherlich einige schockieren, aber ich wüsste nicht, warum die Narratologie ein Katechismus werden sollte, der auf jede Frage mit einem ankreuzbaren Ja oder Nein zu antworten erlaubt, wo die richtige Antwort oft genug lautet: das hängt vom Tag, vom Zusammenhang und von der Windgeschwindigkeit ab. (Genette 2010, S. 218)

Vielleicht ist es bezüglich der Wahl der Terminologie oder des Modells ein bisschen so, wie mit der richtigen Antwort im obigen Zitat: Sie hängt weniger von der Windgeschwindigkeit, aber durchaus vom Zusammenhang, vom jeweiligen Text und vor allen Dingen vom jeweiligen Erkenntnisinteresse ab (vgl. Bode 2006, S. 143). 


Bibliografie 

  • Bode, Christoph: Der Roman. Eine Einführung. 2. erweiterte Auflage. Tübingen; Basel: Francke, 2011.
  • Genette, Gérard: Die Erzählung. 3 durchgesehene und korrigierte Auflage. Paderborn: Wilhelm Fink Verlag, 2010.
  • Martínez, Matías und Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. 9. erweiterte und aktualisierte Auflage. München: Beck, 2012.
  • Vogt, Jochen: Aspekte erzählender Prosa. Eine Einführung in Erzähltechnik und Romantheorie. 9. Auflage. München: Wilhelm Fink Verlag, 2006.