Inhalt

Der Krieg tobt in Damaskus. Innerhalb dieses Szenarios des Schreckens versuchen die zehnjährige Salima und ihre Großeltern, im Schutzkeller die Angst in den Griff zu bekommen. Ein Rezept, das der Großvater dafür empfiehlt, stellt der Versuch dar, sich vorübergehend von allen Sorgen zu trennen, indem man sie symbolisch über eine Schwelle trägt. Als Quelle für diesen Ratschlag führt der Großvater Onkel Salim an, wodurch bereits eine erste Verbindung in eine weit zurückliegende Zeit hergestellt wird. Dies wird schließlich durch das Tagebuch des Großvaters, aus dem er seiner Frau und Salima im Schutzkeller vorliest, verstärkt. Die Tagebuchausschnitte reichen in eine Zeit zurück, als der Großvater ein zwölfjähriger Bäckersjunge in Damaskus war. Da der Vater den Jungen unbedingt in der Bäckerei braucht, kann Farid trotz aller Versuche des Lehrers, den Vater von der Intelligenz seines Sohnes zu überzeugen, nur wenige Jahre auf die Schule gehen. Doch der begabte Farid, der früh Gedichte schreibt, hegt den Traum, Journalist zu werden, um die Wahrheit ans Tageslicht zu befördern und die Welt zu einer besseren zu machen. Für diesen Berufswunsch ist wiederum Onkel Salim verantwortlich, der regelmäßig im Haus der Familie verkehrt. Er ist der ältere Bruder der Mutter und ein Vorbild für den Jungen. Wie sich zeigt, hat er, der selbst nicht schreiben kann, ein ganz besonderes Verhältnis zur Schrift. Und er ist es auch, der Farid dazu animiert, Tagebuch zu schreiben. Mit seinem Freund Mahmud und dem Journalisten Habib entwickelt Farid die Idee, kritische Texte zu schreiben und diese als Botschaft per Sockenzeitung in dem autoritär regierten Land auf einem Bazar zu verbreiten. Unterstützt wird die "Bande der schwarzen Hand", wie sich die Freunde nennen, von Farids Freundin Nadia und seiner Mutter, zu der der Junge ein sehr enges Verhältnis hat.

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Kritik

Eine Besonderheit des in 28 Tracks sehr übersichtlich gegliederten 50-minütigen Hörspiels von Gudrun Hartmann sind die beiden Zeitebenen von unmittelbarer Gegenwart im Schutzkeller und lang zurückliegender Vergangenheit im früheren Damaskus. Die skizzierte Rahmenhandlung im Schutzkeller ist durchgehend durch eine realistische Geräuschkulisse als Kriegsszenerie markiert. Maschinengewehrsalven, Schläge und Detonationen tauchen in weiteren Rahmenszenen innerhalb des Hörspiels wieder auf und ermöglichen beim Hören eine zeitliche Orientierung. Musikinstrumente aus dem arabischen Raum wie Oud und Riq verweisen bereits im Vorspann akustisch auf eine bestimmte Region.

Hinzu kommt in der Rahmenhandlung die beruhigende Stimme des Großvaters, der in diesen Szenen eine Art homodiegetische Erzählerfunktion einnimmt und ordnend innerhalb der chaotischen Kriegsszenen wirkt. Das Vorlesen seiner Tagebucheinträge bildet die Brücke zum Damaskus des Bäckerjungen Farid. Am Ende von Track 4 findet der Übergang in die Spielszenen statt, die einen großen Teil des Hörspiels einnehmen und an wenigen Stellen durch kurze Einschübe der Rahmenhandlung im Schutzkeller unterbrochen werden.

Das Geschehen in den Spielszenen in der Bäckerei, im Haus der Familie, auf dem Bazar, in der Wohnung des Journalisten Habib und auf den Straßen von Damaskus ist atmosphärisch sehr dicht gestaltet. Im Mittelpunkt steht Farid, dessen Berufswunsch Journalismus mit der emphatischen Vorstellung verbunden ist, dass man mit Artikeln die Wahrheit aufdecken kann. In einer Diktatur wie der syrischen erfordert das freilich viel Mut und Engagement. Doch gemeinsam mit dem Journalisten Habib und seinem Freund Mahmut sowie der Unterstützung durch die Mutter, Onkel Salim sowie Nadia gelingt der mutige Schritt.

Vor allem die Idee mit der Sockenzeitung bringt Fahrt ins Geschehen. Farid und Mahmut schreiben kleine Botschaften auf Zettel und besprechen sie mit dem Journalisten Habib. So schreibt Farid in Bezug auf seine eigene Situation z.B. eine Geschichte über Schülerinnen und Schüler, die zu früh die Schule verlassen müssen (vgl. 23/00:34), und Mahmud entwickelt kleine Fragen, die die Menschen zum Nachdenken anregen sollen (z.B. "Weißt du, wie viel Kilo Brot man für einen Panzer kaufen kann?", 23/00:51). Gerade die Bezüge zu ganz konkreten Problemen machen die mit diesen kleinen subversiven Texten gefütterte Sockenzeitung so anschaulich. Mit einer illegal betriebenen Maschine Habibs vervielfältigen die Freunde die Botschaften, stopfen sie in gut 200 Paar Socken und vertreiben diese billig auf dem Bazar. Solche Szenen werden hörspielspezifisch mit Marktgeräuschen und Stimmengewirr unterlegt.

Besonders gelungen wirkt aber in der Szene auf dem Bazar und insgesamt im Hörspiel die arabisch-orientalische Musik. Vermutlich, weil sie von arabischen Oud- und Riq-Spielern im Studio exklusiv für dieses Hörspiel eingespielt wurde, wirkt die von Martin Brezzola komponierte Musik nirgends klischeehaft oder gar kulturalistisch, sondern sehr authentisch. Klanglich ersteht in dieser Musik ein Damaskus der 70er Jahre lebendig vor dem inneren Auge der Hörenden. Doch neben diesem Aspekt der Authentizität, der gerade bei Hörkulissen aus geografisch und historisch weit entfernten Regionen und Zeiten besonders wichtig ist, unterstützt die Musik auch auf sehr überzeugende Weise die Gefühlsebene der Figuren und ist zudem Motor der Handlung. So wird über die musikalische Ebene in der Bazarszene einleitend und untermalend große Gefahr und Spannung suggeriert (21/00:00), begleitet vom Flüstern der beiden Jungen, die sich einen Platz suchen, wo sie die Socken mit der verborgenen Botschaften verkaufen können.

Fazit

Spezifisch für das Hörspiel von Gudrun Hartmann ist, dass Musik, Geräusche und Stimmen jeweils eine eigene Qualität erhalten, sich aber auch sinnvoll und fein abgestimmt aufeinander unterstützen. Die Aktualisierung des Stoffs durch die Rahmenhandlung im Schutzkeller schafft einen neuen Zugang zu Rafik Schamis Eine Hand voller Sterne. Denn inmitten des Krieges im heutigen Syrien erzählt der Großvater seiner zehnjährigen Enkelin Salima die Geschichte seiner eigenen Jugend. Durch das Tagebuch bleibt diese lange zurückliegende Zeit lebendig und kann von Salima als Stück ihrer eigenen Geschichte verstanden werden. Die aufgeschriebenen Gedanken im Tagebuch bewahren all das vor dem Vergessen, was materiell durch den Krieg in Syrien längst verloren ist. Dies ist kein geringer Ertrag dieses sehr interessanten Hörspiels, das mit einer Waffenruhe und der Aussicht auf eine geglückte Flucht endet. Es kann Denkprozesse auch bei heutigen Jugendlichen in Gang setzen, wie die Zusammenarbeit der Hörspielmacherinnen und -macher mit einer 9. Klasse einer Frankfurter Schule augenfällig macht. Daraus ist eine ausgezeichnete Webseite mit vielfältigen Informationen zum Entstehungsprozess des Hörspiels entstanden, die auch weitere Projekte in Schulen anregen könnte. Auf der Webseite finden sich u.a. Interviews mit der Dramaturgin, dem Regisseur, dem Komponisten sowie den Sprecherinnen und Sprechern, aber auch etliche Szenen mit Schülerinnen und Schülern, die sich im Rahmen des Projekts intensiv mit dem Stoff aus Eine Hand voller Sterne auseinandersetzen.

Der Verlag gibt auf dem CD-Cover keine Altersempfehlung, die Themen sowie das Alter der Protagonistinnen und Protagonisten legen den Einsatz des Hörspiels ab etwa 12 Jahren nahe.

Titel: Eine Hand voller Sterne
Regie:
  • Name: Robert Schoen
Autor/Bearbeitung:
  • Name: Rafik Schami
  • Name: Gudrun Hartmann
Sprechende: Nicolas Matthews (Farid), Walter Renneisen (Onkel Salim), Frauke Poolmann (Mutter), Ralf Drexler (Vater), Claus Dieter Clausnitzer (Opa), Antje Hagen (Oma), Lou Tillmanns (Salima), Isaak Dentler (Habib), Heinrich Giskes (Lehrer), Yasin Boynuince (Mahmud), Nelly Politt (Nadia)
Produktion: hr/WDR (steinbach sprechende bücher)
Erscheinungsjahr: 2018
Dauer (Minuten): 50 Minuten
Preis: 12,99 €
Altersempfehlung Redaktion: 12 Jahre
Schami, Rafik: Eine Hand voller Sterne (Hörspiel)