Inhalt

Das erste Kapitel handelt von Leon, der Geburtstag hat, aber bei dem bisher alles schief läuft. Er möchte nicht mit seinem neu geschenkten Fahrrad in die Schule fahren, eine Geburtstagsfeier kann nicht stattfinden und die Muffins, die er zu seinem Geburtstag gebacken hat, sind ihm beim ersten Versuch angebrannt. Dann ist auch noch sein Stammplatz im Bus belegt und nach einer Vollbremsung kullern die Muffins über den Boden. Schlimmster Geburtstag aller Zeiten? Nein, denn dann wendet es sich noch zum Guten. Wie aus dem Nichts hat der Busfahrer plötzlich eine riesige Geburtstagstorte für Leon und er kann sich sogar mit seinem besten Freund wieder versöhnen. Was es wohl mit der Aufschrift "Omnibus" auf der Torte auf sich haben mag? Warum der Busfahrer wohl auf die ältere Damen gewartet hat, die ihm dann einen Kuss gibt? Woher hat der Busfahrer auf einmal Tamis Brotdose? Die Antwort auf die Fragen geben die anderen Episoden, die dasselbe Geschehen jeweils aus einer anderen Perspektive beleuchten.

Kritik

Es mutet schon gewöhnungsbedürftig an, wenn kurz eine Melodie zu hören ist und dann auf die Nennung des Titels und Autors direkt eine Definition dreier Kameraperspektiven durch drei Erzählerinnen:

Die Totale sieht alles (Hupen im Hintergrund)
Die Halbtotale sieht das Wesentliche (deutlich näher klingendes Hupen)
Nahaufnahme, die Nahe, ist näher dran (zweimaliges lautes Hupen) (00:09)

Was es damit auf sich hat, wird zunächst gar nicht aufgelöst, stattdessen beginnt das erste Kapitel damit, dass die drei Erzählerinnen unterschiedliche Passagen sprechen. Zum Teil ergänzt Leon, der Protagonist des ersten Kapitels, darüber hinaus noch Details seiner Geschichte in der Ich-Form und eröffnet damit eine vierte, die Ich-Perspektive. Wenn aus der Überblickperspektive berichtet wird, zum Beispiel bei der Nennung der Kapitelüberschrift, spricht die Erzählerin, die die Totale vorgestellt hat, wenn Dinge aus einer gewissen Nähe berichtet werden, spricht die Erzählerin, deren Stimme die Halbtotale vorgestellt hatte, und bei Nahaufnahmen wird die Erzählerinnenrede oftmals durch Aussagen der Figuren selbst ergänzt. Die Erzählerin der Nahaufnahme ist so nah an den jeweiligen Figuren, dass diese sogar mit ihr reden können: Tami: "Hab ich das laut gesagt?" Erzählerin: "Moment, ich seh' mal nach. Nein, war nur eine Gedankenblase". (10:52)

Hier erfolgt eine sehr interessante Referenzierung der Medialität und Intermedialität des Erzählten, denn es wird deutlich, dass keine unvermittelte Schilderung einer Situation vorliegt, sondern vielmehr eine erzählerische, konzeptionell schriftliche Bezugnahme auf eine Welt, die offensichtlich eine Art Comic-Form zu haben scheint, wenn die Erzählerin zwischen Sprech- und Denkblasen unterscheidet. Insofern liegt hier kein direkter Verweisungszusammenhang auf das Ausgangsmedium vor, sondern wiederum eine ästhetisierte Form der Referenz, denn das Buch hat keinesfalls Comic-Form und hier besteht auch kein Zweifel daran, dass Tami den fraglichen Gedanken nicht ausspricht: "[B]einahe hätte sie das laut gesagt. Nicht auszudenken!" (Linie 912, S. 29).

Anders als in prototypischen Hörspielen liegt weniger ein dramatischer Modus mit sehr viel Figurenrede vor als vielmehr eine dominante Erzählerinnenrede, die ihre eigenen Perspektivverschiebungen und -wechsel selbst durch die drei unterschiedlichen Erzählerinnen reflektiert. Dialoge im reinen Sinne finden nicht statt, wohl aber ist eine Klangkulisse vorhanden. Zu hören sind jeweils der Busmotor, die sich öffnenden und schließenden Türen, Verkehrsgeräusche, Hundegebell, andere Stimmen oder Babygebrabbel, je nachdem, aus welcher Sicht gerade erzählt wird.

Einige Ereignisse erscheinen auf den ersten Blick aus der jeweiligen Perspektive zunächst rätselhaft und unerklärlich. In zehn Kapiteln werden unterschiedliche Sichtweisen auf ein und dieselbe Busfahrt beschrieben und dadurch immer wieder neue Details offenbart, neue Sichtweisen auf die jeweilige Szene dargestellt und somit immer neue Mosaiksteinchen geboten, die im Zusammenspiel die jeweiligen Antworten ergeben. So löst sich beispielsweise erst in Episode 8 aus Sicht der älteren Dame Ida auf, dass sie dem Bus hinterherrennt, dann feststellt, dass sie ihr Geld vergessen hat und auch später ihren Mann auf dem Friedhof besuchen könne. Da sie dem Busfahrer aber für sein Warten und seine Freundlichkeit danken will, gibt sie ihm einen Kuss und verlässt den Bus wieder. Genauso erklärt sich erst am Ende im letzten Kapitel aus der Sicht des Busfahrers Eno, dass dieser gerade die Busfahrer-Weltmeisterschaft gewonnen hat und dafür eine Käsetorte mit der Aufschrift "Omnibus" erhielt. Er hat nun Mitleid mit Leon, dessen Geburtstagsmuffins nach der Vollbremsung wegen des Hundes, der vor den Bus gelaufen ist, über den Boden kullerten, weshalb er seinen Käsekuchen an den Jungen verschenkt. A propos Hund: Wirklich ungewöhnlich ist die Schilderung der Szene aus der Sicht des Hundes mit seinem feinen Geruchssinn, der seinem Frauchen ausbüxt, vor den Bus läuft und dann das heiße Gummi der Reifen riecht, nachdem der Bus mit einer Vollbremsung zum Stehen gekommen ist.

Die Story aus den unterschiedlichen Perspektiven überzeugt schon im Kinderbuch, wenn hier die inhaltlichen Rätsel ebenfalls erst nach und nach wie kleine Elemente eines Puzzles zusammengesetzt werden und sich so allmählich ein vollständiges Bild der Situation ergibt. Allerdings kann das Hörspiel in diesem Falle noch mehr bieten als das Buch. Dafür sorgen einerseits die Stimmen der Erzählerinnen sowie die der einzelnen Handelnden und andererseits die immer wiederkehrenden Geräusche in jedem der Durchläufe durch die Busfahrt: In jeder Busfahrt ist der Dieselmotor mit dem Automatikschaltgetriebe zu hören, jedes Mal werden Hupgeräusche und die Hydraulik der Tür eingespielt, und zehn Mal ist das Quietschen der Bremsen und das anschließende "Tschulligung" des Busfahrers zu hören, wodurch noch deutlicher wird, dass in der Tat zehn Mal dasselbe, nur eben jeweils aus einer anderen Perspektive berichtet wird. Interessant ist auch, wie sich zum Teil aus der Stimmkulisse je nach Perspektive bestimmte Geräusche herauskristallisieren und zu verstehbarer Sprache werden.

Im Vergleich mit dem Ausgangsmedium sind einige Szenen deutlich weniger komplex. So behauptet der Erzähltext des Kinderbuchs im Uland-Kapitel:

In Wahrheit ist es so: Die Menschen halten ihn für den großen Bruder der kleinen Rubi, für den Sohn von Karoline und Andreas Angel […]. Wenn sie wüssten, die Menschen. Den blauen Alles-Scanner an seinem rechten Arm halten sie für einen Gipsverband (Linie 912, S. 43).

Dieses Spiel mit der textinternen Realität entsteht dadurch, dass aus der Sicht des phantasievollen Kindes namens Uland erzählt wird. In seiner Phantasie wird er zum Alien, das mit der Mission entsandt wurde, möglichst viele Informationen über die Erdlinge einzuholen. Der Text unterläuft das später selbst, wenn dann doch von "seiner Schwester" (S. 51) die Rede ist und er sich auch entschließt, doch nicht die Erde zu verlassen, allerdings bleibt hier eine gewisse Verfremdung durch das perspektivgebundene Erzählen. Diese komplexe Ausstaffierung der Szene gestaltet sich im Hörspiel deutlich weniger kompliziert, indem Uland hier nicht als Außerirdischer eingeführt wird, sondern als Kind, das einen Gipsverband trägt, noch nicht lesen kann und daher viele Vorgänge während der Busfahrt noch nicht versteht.

Einfachheit auf der formalen Seite ist ohnehin kennzeichnend für dieses Hörspiel: Während inhaltlich das durchaus komplexe Thema der Perspektivgebundenheit der Wahrnehmung in den Blick genommen und das Zusammenfügen des Puzzles den Rezipientinnen und Rezipienten überlassen wird, ist die sprachliche Gestaltung sehr einfach: Kurze Sätze dominieren die Beschreibungen. Zunächst ist es etwas gewöhnungsbedürftig, dass Tätigkeiten der Figuren mit der immer wiederkehrenden Formel "x, wie er y tut" dargestellt werden: "Leon, wie er eine grüne Schüssel im Arm hält" (00:46). Diese Form haben alle Sätze, in denen Tätigkeiten ausgedrückt werden. Das wirkt zunächst wenig dynamisch, erzeugt aber gewissermaßen den Eindruck von Regieanweisungen, was dann wiederum auch den Bezug zu den Kameraperspektiven herstellt. Darüber hinaus wirkt diese formelhafte Sprache gewissermaßen puristisch und verstellt beim Zuhören nicht den Fokus auf das Geschehen. Für die Zielgruppe der Kinder ab 8 Jahren, für die schon das Spielen mit Perspektiven anspruchsvoll sein dürfte, ist dieser Sprachpurismus sicherlich sehr geeignet.

Fazit

Auch wenn der Ausblick aus dem Buch fehlt und damit nicht expliziert wird, dass hier zehn Geschichten zusammengeführt werden, die alle schon vor der Busfahrt begonnen haben und danach noch weitergegangen sind, wird die Magie dieser Momentaufnahmen beim Zuhören fühlbar. Insofern handelt es sich um zehn kurze Episoden, die zum Nach- und Weiterdenken anregen.

Für Kinder besonders interessant ist das Spiel mit Perspektiven: Indem nämlich deutlich wird, dass ein und dieselbe Busfahrt aus der Sicht unterschiedlicher Figuren ganz anders abläuft oder sich die Wahrheit über die Vorfälle erst ergibt, wenn mehrere Sichtweisen gehört wurden, wird eine zentrale Einsicht gefördert: Die Kinder lernen, dass Erzählen perspektivgebunden ist und werden zu mehrfachen Perspektivübernahmen eingeladen. Diese Fähigkeit fördert zugleich die Empathie der Kinder, die eben erkennen, dass jede Geschichte mehrere Seiten hat. Durch die Erzählerstimmen und die Geräuschkulisse wird das Eindenken in die Perspektiven erleichtert und so entsteht eine wirklich bezaubernde, anregende Geschichte.

Literatur

Thilo Reffert: Linie 912. Ill. v. Maja Bohn. Leipzig: Klett: Leipzig, 2018.

Titel: Linie 912
Regie:
  • Name: Annette Kurth
  • Name: Ulla Illerhaus
Autor/Bearbeitung:
  • Name: Thilo Reffert
  • Name: Gudrun Hartmann
Sprechende: Jakob Roden, Julia Fritz, Jordy-Leon Sun, Jonny Naas, Cathlen Gawlich, Dustin Semmelrogge, Ilse Strambowski, Thiemo Schwarz, Susanne Reuter, Lou Strenger, Lisa Bihl
Produktion: WDR
Erscheinungsjahr: 2020
Dauer (Minuten): 52 Minuten
Altersempfehlung Redaktion: 8 Jahre