Die siebziger Jahre - Der Weg ins Theater

Für die Dramatikerin Anja Tuckermann war es das Grips Theater Berlin, das ihr den Zugang zu den darstellenden Künsten ermöglichte. Und zwar seit frühester Kindheit. Bereits in ihrer Jugend besuchte sie in den 1970er Jahren häufig das Grips Theater, aber auch die Freie Theatergruppe Rote Grütze, beide waren Protagonisten des emanzipatorischen Kindertheaters Westberlins.

Meine alleinerziehende Mutter hat uns drei Kinder ab und zu einfach ins Theater geschickt. Zur Roten Grütze in Kreuzberg und später dann ins Grips Theater. Da war ich begeistert, z.B. von dem Stück Mugnog-Kinder! und von anderen Stücken. Es war ja wie mein Leben, irgendein Platz im Hinterhof zum Spielen. Die Stücke haben mein Leben getroffen und angesprochen. Sie haben sich überschnitten mit meiner Lebenssituation. Und Jahre später dann das tolle Ereignis: ich darf fürs Grips Theater schreiben. (Tuckermann/Fangauf 2018).

Und noch eine zweite biografische Notiz verdeutlicht Anja Tuckermanns frühe Begeisterung für das Theater.

Als Schülerin war ich mit einer Kulissenmalerin befreundet und fast jede Woche im Theater. Mich begeistert immer wieder die Umsetzung von Text in Bilder, Räume, Bühnenbilder, bewegte Bilder, Szenen. (vgl. Fangauf 2009).

Anja Tuckermann und das Grips Theater (1994 bis 2001)

Maßgeblich durch den Dramaturgen Stefan Fischer-Fels initiiert, suchte das Grips Theater Mitte der 1990er Jahre den Kontakt zu jungen Autorinnen und Autoren, um sie für das Kinder- und Jugendtheater zu gewinnen. Ziel war es, mit ihnen über Themen für mögliche Stücke zu sprechen, Stückaufträge zu vergeben, gemeinsame Recherchen durchzuführen und den Schreibprozess im Theater kritisch zu begleiten. In dieser Phase – zwischen 1994 bis ca. 2001 –  fanden diverse Autorinnen und Autoren (u.a. Tini Cermak, Hans Zimmer, Lutz Hübner, Anja Tuckermann) ihren Weg ins Grips Theater und brachten dort erste Stücke zur Uraufführung. (vgl. Simon 1999, S. 82)

Stefan Fischer-Fels und der Schauspieler und Regisseur Dietrich Lehmann waren während dieses Prozesses durch die Lektüre des Jugendbuches Muscha. Ein Sinti-Kind im Dritten Reich auf die im Berliner Stadtteil Kreuzberg wohnende Buchautorin und Journalistin Anja Tuckermann aufmerksam geworden. Mit der Idee, dieses Buch von der Autorin für das Grips Theater dramatisieren zu lassen, traten sie an sie heran. Das Vorhaben wurde aber von Zeitereignissen, dem Krieg in Bosnien (1992–1995), durchkreuzt. Inspiriert durch Emil Joldic und Vernesa Berbo, zwei nach Berlin geflohene bosnische Schauspieler, entstand im Theater der Wunsch, vorrangig ein Theaterstück für Kinder zum Bosnien Krieg und für die beiden geflüchteten Schauspieler zu entwickeln. Anja Tuckermann sollte dieses schreiben und sie willigte ein.

Und so ging’s von der „Sinti-Idee“ weg und es entstand „Asra“. Das fand ich ganz phantastisch. Und das war auch eine Chance für mich. Ich hatte vorher schon immer den Traum, mal ein zweisprachiges Theaterstück zu schreiben. Meine Idee war: ich schreibe alles auf deutsch, aber die Eltern von Asra würden auf Bosnisch sprechen. Das Theater war mit dieser Idee einverstanden. (Tuckermann/Fangauf 2018)

Asra – Die von gegenüber (1996)

Inhalt

Die achtjährige Asra lebt mit ihren beiden Eltern im Flüchtlingsheim. Auf der anderen Straßenseite wohnt Lili mit ihrer Mutter, die alleinerziehend für deren beider Lebensunterhalt sorgen muss. Lili, eine gute Schülerin, spielt mit ihren Freunden Flo und Ela häufig auf der Straße. Die drei äußern dabei ihre stereotype Abneigung gegenüber Flüchtlingen und beschimpfen Asra. „Mit denen von Gegenüber spielen wir nicht“ (S. 10). Alle Klischees, die die Kinder über Flüchtlinge aufgeschnappt hatten, werden im Vorurteilssong (S. 12) geäußert. Durch Asras Initiative kommt es zu einer ersten vorsichtigen Annäherung zwischen den Kindern. Im weiteren Verlauf des Stückes entwickelt insbesondere Lili Sympathie für Asra, die den Kindern von ihren Kriegserlebnissen erzählt, von dem eigenen Haus der Familie, das nun von Serben bewohnt wird, von ihrem Hund und den vielen liebgewonnenen Dingen, die sie zurücklassen musste. Immer wieder wechselt die Perspektive in das Flüchtlingsheim, schildert das reibungsvolle Alltagsleben in der überfüllten Unterkunft. Asra muss aufgrund ihrer deutschen Sprachkenntnisse ihren Eltern bei Behördengängen und anderem helfen. Im Fragensong (S. 20) zeigen die Kinder erstmals ernsthaftes Interesse an Asras Leben.

Eigentlich wollt‘ ich immer schon mal wissen
wie’s bei Asylanten aussieht
Eigentlich wollt‘ ich immer schon mal wissen
Wie man’s da wohl aushält (S. 20)

Asra fordert den Mut der Kinder heraus, sie ins Flüchtlingsheim zu begleiten. In Flos Lied (S. 29) nehmen die Kinder die Dinge selber in die Hand und folgen ihrer Neugier.

Fragt bloß eure Eltern nicht
Sie sagen gleich, das dürft ihr nicht
Wir schleichen, forschen, wie wir woll’n
Und tun nicht, was wir soll’n (S. 29)

Die Kinder rüsten sich für eine „Expedition“ ins Flüchtlingsheim. Es gelingt ihnen, den Wachmann zu täuschen. Beim Streifzug durch das Heim erfahren sie von den vielfältigen Problemen der dort lebenden Menschen, erleben bosnische Kultur und Gastfreundschaft. Plötzlich steht Lilis Mutter wütend im Raum und will ihre Tochter nach Hause holen. Als sie aber hört, dass Asras Eltern einen Brief von der Ausländerbehörde erhalten haben und sie zurück nach Bosnien gehen sollen, solidarisiert sie sich mit Asra. „Ich geh nämlich nicht nach Bosnien“ (S. 40). In der letzten Szene suchen die beiden Mütter der Kinder, Petra und Sadika, gemeinsam einen Rechtsanwalt auf, um die nötigen juristischen Schritte einzuleiten, so dass Asra bleiben kann. Alle Kinder spielen gemeinsam Berem, berem grozdje, ein bosnisches Spiel.

In der Lebenswirklichkeit der Kinder recherchieren

In Asra, ihrem ersten Theaterstück, schlägt die Autorin bereits jenen realistisch gesellschaftskritischen Ton an, der für die Schreibweise auch ihrer kommenden Stücke prägend sein sollte. Vorausgegangen waren dem Stück intensive Recherchen zum Thema Kindheit und Krieg. Seit Ausbruch des Bosnien-Krieges 1992 hatte Tuckermann sich journalistisch, sie war Redakteurin beim RIAS Kinderfunk, mit dem Thema beschäftigt und immer wieder Kinder und Jugendliche interviewt. Die Theaterwissenschaftlerin Geesche Wartemann beschreibt diesen Prozess der Wissensaneignung für Autorinnen und Autoren wie folgt:

Die Recherche soll gewährleisten, dass Themen sach-, zeit- und altersgemäß dargestellt werden […] Im Prozess der Dramatisierung durch einen Autor oder eine Autorin wird anschließend das Recherchematerial fiktionalisiert. Charakteristisch für Bearbeitungen im Kinder- und Jugendtheater sind typisierte, kindliche oder jugendliche Figuren, die ein „überindividuelles Allgemeines“ (vgl. Pfister 1994, S. 245) repräsentieren. Der geschriebene Text dient als Ausgangspunkt der dann folgenden Inszenierung. (Wartemann 2018, S. 14).

Anja Tuckermann reiht sich mit dieser Arbeitsweise in die Tradition und Dramaturgie der Grips-Stücke ein, die maßgeblich vom damaligen Theaterleiter und Autor Volker Ludwig entwickelt wurde. Als Spezialistin für Sprache, für Figuren- und Geschichtenerfindung macht sie sich, die erwachsene Autorin, zur Fürsprecherin für Kinder. Mit ihrer rechercheorientierten Methode und Schreibweise relativiert die Autorin den Umgang mit dem Dokument und hinterfragt die Differenz zwischen Leben und Kunst.

Von besonderer Bedeutung für die Autorin sind Schreibwerkstätten mit Kindern und Jugendlichen, die Tuckermann seit 1994 an zahlreichen Orten regelmäßig durchführt. Sie dienen ihr als Rechercheraum, als Fundus, die Lebenswirklichkeit der Jugend zu erfahren. In diesen Werkstätten und in ihren zahlreichen Lesungen vor Kindern und Jugendlichen wird das Interesse der Autorin für und ihre Neugier auf die junge Generation deutlich. Sie möchte sie ermuntern und deren Kreativität fördern. Ein Beispiel: 2013 leitet sie für Lese-Zeichen e.V. Jena eine über zwei Monate angesetzte Schreibwerkstatt im ländlichen Raum von Thüringen. Dialoge – Szenisches Schreiben mit Jugendlichen hieß die Werkstatt. 13- bis 16-jährige Haupt- und Realschüler nahmen an der Werkstatt teil. Anja Tuckermann resümiert:

Die Jugendlichen haben das Projekt Dialoge wirklich genutzt als Dialoge mit ihrer Umgebung. Einerseits haben sie die Dialoge, Gespräche ihres Alltags schriftlich festgehalten, andererseits haben sie das Schreiben genutzt als Mittel der Mitteilung, erst in der Gruppe, dann in der Öffentlichkeit - an ihre Eltern, Lehrer, „die Erwachsenen“ – eine Mitteilung an die Welt. (Fangauf/Zadow 2013, S. 15)

Kinder und Jugendliche sind die Identifikationsfiguren und Helden ihrer Stücke; ihre Lebenswirklichkeit, ihre Sprache, ihre Spiele werden für die Bühne transformiert, werden zur Sprach- und Bühnenkunst, bevorzugt in kurzen, schnell wechselnden Szenen. Die Geschichten und Figuren entstammen dem Alltag, sie sollen „politisch nicht im Sinne von ideologisch sein, sondern die Kinder sollen verstehen, wie die Welt funktioniert.“ (Tuckermann/Fangauf 2018)

Musik und Lieder

Ein konstituierendes Moment des Stückes Asra – Die von gegenüber sind die Liedertexte mit der von Axel Kottmann und Ramiz Tahiri komponierten Musik. In neun Liedern wird der Handlungsfluss immer wieder angehalten und jeder Figur Raum gegeben, ihre Haltung zum Geschehen kritisch zu reflektieren. Diese Dramaturgie des Schauspiels mit Musik knüpft an Bertolt Brechts Episches Theater an. Demzufolge wird durch die Musik „das Drama [ ] an Gewicht leichter, sozusagen eleganter.“ (Brecht 1967, S. 472 ff.) In der Uraufführung am Berliner Grips Theater (19. Januar 1996) saßen die beiden Musiker sichtbar auf der Bühne, als Teil des Bühnenbildes. Lichtwechsel kündigen die Liedszenen an. Die Inszenierung wird für Augenblicke zu einem Live-Konzert, wodurch zeitgleich Bühnenumbauten ermöglicht werden.

Rezeption

Die Uraufführung, inszeniert von Dietrich Lehmann, wurde unterschiedlich aufgenommen: „[D]as ist genau erzählt und wunderbar gespielt“, lobte der Tagesspiegel (21. Januar 1996) während die Berliner Morgenpost (21. Januar 1996) kritisierte, dass „die Spieldauer von zwei Stunden spürbar zu lang geraten ist.“ Im Saison-Rückblick 1995/96 des Fachmagazins THEATER HEUTE wird Tuckermann für ihr Stück als eine der besten Nachwuchsautorinnen des Jahres gelobt. 1997 erhielt das Grips Theater den Brüder Grimm Preis des Landes Berlin für den engagierten Spielplan mit neuen Stücken zum Thema Gewalt, Mobbing und soziale Isolation. Asra – Die von gegenüber gehörte dazu (vgl. Simon 1999, S. 62).

In der Folge ihres ersten Theaterstücks Asra – Die von gegenüber entstanden zwei weitere Stücke für das Grips Theater. Komm, wir knutschen (1998) und Ganz große Pause (2001). Im Gegensatz zu Asra konnte die Autorin nun dem Theater ihre Wunschthemen vorschlagen und damit biografische und eigene Erlebnisse verarbeiten.

Das Thema für das nächste Stück Komm, wir knutschen wurde von mir vorgeschlagen. Und da war wieder alles verknüpft. Mein Buch für Junos war erschienen und für das Radio habe ich eine Sendung über 6-jährige Kinder und die Liebe gemacht. Ich musste ja Geld verdienen. Diese Radiosendung gab mir Gelegenheit für die Recherche zum Stück und meine Idee war dann, Großeltern vorkommen zu lassen und so über die Liebe zwischen Kindern und ganz Alten zu schreiben. […] Ich könnte nicht ein Stück schreiben über kleine Kinder, die sich lieben, sondern da muss noch etwas dazukommen. Es ist mein Bedürfnis, insbesondere wenn ich für Kinder schreibe, nicht nur einen Aspekt zu haben, denn das Leben ist ja gleichzeitig so vielfältig. (Tuckermann/Fangauf, 2018)

Komm wir knutschen

Komm wir knutschen wird vom Grips Theater als eine Liebesgeschichte für Menschen ab 5 angekündigt. Linda ist sechs Jahre alt, ihre alleinerziehende Mutter muss den ganzen Tag arbeiten. Am liebsten spielt Linda mit den beiden Nachbarsbrüdern Janik und Leon. Aber deren Eltern streiten sich ständig. Gut, dass es Lindas patenten Opa Walter gibt, bei dem die drei Kinder ihre meiste Zeit verbringen. Mit Opa kann man Spaß haben, ihn kann man alles fragen: „Hast Du schon mal Geld geklaut? “ (Tuckermann 1998, S. 28) oder „Hast Du manchmal Sehnsucht nach Oma? “ (Tuckermann 1998, S. 29) Im Spiel entdeckt Janik etwas ganz Besonderes: Er ist verliebt in Linda. Und auch Linda mag Janik, worüber Leon nicht begeistert ist. Als nun auch noch die Oma der Brüder auftaucht, dauert es nicht lang und Opa Walter entdeckt seine Sympathie für sie. Beide singen das Lied Komm, wir knutschen.

Jetzt bin ich alt
Und schwach auf der Brust
Doch ich hab immer noch
Die gleiche Lust
Ich komme mir
Wie sechzehn vor
Und flüst’re dir
Ins Ohr:
Komm, wir knutschen (Tuckermann 1998, S. 40)

Das Stück geht mit dem Thema Liebe und Sexualität auf kindgemäße, verantwortungsvolle Weise um. Die Autorin nimmt die Perspektive der Kinder ein, bringt ihre Neugier und Unsicherheit zur Sprache. Durch die Anwesenheit des Opas und seiner neu entdeckten Verliebtheit haben die Kinder einen Ansprechpartner und sind mit ihren Gefühlen nicht allein gelassen. Stärker noch als bei dem Stück Asra spielt Anja Tuckermann hier mit der Kindersprache und gestaltet diese: „Voll verdööfert“ (Tuckermann 1998, S. 4) oder „obersausaudoof“ (Tuckermann 1998, S. 33) bezeichnet Leon seinen Bruder, und Linda hat für ihn ein „Du bist ja vielleicht eine Arschgeige“ (Tuckermann 1998, S. 7) übrig. Schier endlos scheint auch das Repertoire der Autorin an einfachen Kinderspielen zu sein, die im Stück vorkommen. Sie heißen „Versteinern, Ohne Boden, Klatschspiele, Detektiv oder Pirat“ (Tuckermann 1998, S. 22ff.). Musik und Lieder – die Liedtexte stammen in diesem Fall vom Theaterleiter und Autor Volker Ludwig – nehmen auch in diesem Stück eine dramaturgisch wichtige Funktion ein.

Ganz große Pause

Das 2001 am Grips Theater uraufgeführte Stück Ganz große Pause entstand in Folge der Teilnahme von Anja Tuckermann und dem Grips Theater an dem Berliner Theater-Autoren-Projekt Halt suchen – Haltung finden (1997-2000). Mit Schülern aus dem Ost- und dem Westteil der Stadt wurden dramatische Szenen unter professioneller Anleitung geschrieben, inszeniert und vorgestellt.

Und daraus habe ich ein Stück entwickelt. Ganz große Pause. Was ganz ganz viel auch mit meinem Leben zu tun hatte, mit dem Überdruss an Schule, dem vielen schwänzen. Das war mein Thema, da kannte ich mich aus. Es muss ja auch mit mir zu tun haben, um darüber zu schreiben. […] Leider kam es bei dieser Produktion zum Bruch mit dem Grips Theater, denn das Theater meinte, es sei eine Ensembleproduktion, obwohl sie von mir einen komplett fertigen Text erhalten hatten. Ich wurde nicht zur Premiere eingeladen. Mir hat’s leid getan. Das war mein präferiertes Theater, in dem auch meine inhaltliche Richtung stimmte. Und dann der Streit, und ich bin niemand, der sich streiten will. (Tuckermann/Fangauf, 2018).

Ganz große Pause, dramaturgisch ähnlich aufgebaut wie die beiden vorherigen Stücke wird als Theaterstück über Schulschwänzen und Tagträumer für Menschen ab 13 angekündigt. Philipp und Svenja, die beiden Schulschwänzer, träumen sich in Filmwelten. Ihre Lust, Dinge auszuprobieren und ihre vorhandene Kreativität wollen sie nicht im Unterricht einbringen, sondern lieber selber ein Filmscript schreiben und dieses umsetzen. Die beiden bringen ihre Eltern mit ihrem Schwänzen an den Rande der Verzweiflung. Auch die Lehrerin, Frau Dambrowski, hat es nicht leicht mit ihnen, versucht aber Verständnis aufzubringen. Aus Schulschwänzern werden schreibende Schüler und ein Film über Die neue Schule entsteht. „Tja, liebe Leute. Jetzt wollt ihr sicher wissen, wie’s weitergeht! Weiß ich auch nicht. Aber: es geht bestimmt weiter – irgendwie. Tschüssi.“ (S. 36) So beendet der DJ, der als Moderator durch das Stück führt und mühelos die Szenenwechsel ankündigt und kommentiert, das Stück, ein für die Dramaturgie des Grips Theaters ungewohnter, offener Schluss.

Durch das Grips Theater kam ich in die Türkei“

Die Stücke von Volker Ludwig, Autor und Leiter des Grips Theaters bis 2017, und seine Arbeitsweisen übten auch im Ausland große Faszination aus (vgl. Simon 1999, 314 ff.). Das türkische Magazin Tiyatrom druckte Mitte der 1990er Jahre eine Auswahl dieser Stücke ab und lud mehrmals Künstlerinnen und Künstler des Grips Theaters und auch die Autorin Anja Tuckermann zu Workshops nach Istanbul ein. Das Goethe-Institut unterstützte diese Arbeitsbegegnungen, die für Anja Tuckermann langfristig ein Arbeitsfeld mit intensiven Künstler- und Theaterkontakten in der Türkei eröffnete. Bis heute unterhält sie Arbeitsbeziehungen zur Theaterszene des Landes. 2009 erhielt sie eine Einladung für eine Residenz als Stadtschreiberin von Ankara. In den zwei Monaten ihrer Anwesenheit in der türkischen Hauptstadt, wieder unterstützt durch das Goethe-Institut, schrieb sie tägliche Blog-Texte über Jugendliche in Ankara und Jugend in der Türkei. Es entstanden bis heute drei Stücke für das türkische Theater, die in Ankara uraufgeführt wurden. Diese Erfahrungen und ihr politisch-gesellschaftliches Interesse an der sogenannten Gastarbeiterproblematik in Deutschland verarbeitet sie 2011 in dem Jugendstück Warten, dass das Leben beginnt..., das 2011 im Tiyatro Tempo in Ankara unter dem Titel Bavuldaki Hayatlar (Kofferleben) uraufgeführt wurde. Ein Jahr später, 2012 erhielt die Autorin für die deutsche Fassung des Stückes den Kathrin-Türks-Preis des Landestheaters Burghofbühne Dinslaken und erlebte 2013 dort die Deutsche Erstaufführung.

In der Jurybegründung des Kathrin-Türks-Preises heißt es:

Zum 50. Jubiläum des Anwerbevertrages zwischen Deutschland und der Türkei 2011 hat Anja Tuckermann in Gesprächen mit türkischen Migranten die Biografien hinter dem Staatsabkommen recherchiert. Es gelingt ihr, tief in die Realität einzutauchen und die Geschichten in einer authentischen Sprache wiederzugeben. Dabei begleitet sie die Migranten generationsübergreifend. In ihrem poetisch dichten Stück erzählt Anja Tuckermann von Kindern in der Türkei, die ihre Eltern vermissen. Und sie erzählt von Eltern in Deutschland, die zwischen dem Wunsch, bei ihren Kindern zu sein, und dem Anspruch, für deren Leben die besten Voraussetzungen zu schaffen, hin- und hergerissen sind. […] Warten, dass das Leben beginnt ... ist ein berührendes Stück über eine Erfahrung, die Tausende von Arbeitsmigranten weltweit verbindet. (Laudatio Kathrin-Türks-Preis 2012)

In Warten, dass das Leben beginnt ... , ein Stück für Jugendliche ab 14, greift die Autorin auf eine Schreibtechnik zurück, die sie bereits 1999 bei ihrem ersten Jugendstück Angst im Kopf (zusammen mit Guntram Weber) verwendet hat, die Collage Technik. Das Stück, gerahmt von Vorspiel und Epilog, ist in sieben Bilder gegliedert, die die Eltern – Kind – Schicksale türkischer Arbeitsmigranten in Deutschland von den 1960ern bis in die 1980er Jahre beschreiben. Die Texte, basierend auf Gesprächen und Dokumenten, sind teils dialogisch, in weiten Passagen auch monologische Wiedergabe von Briefen oder Stimmen aus dem Kassettenrekorder. Neben aller dokumentarischen Information, die das Stück vermittelt, sind es die Träume, Gefühle, Ängste und Freuden der handelnden Personen, die im Zentrum des Stückes stehen und die es so vielschichtig machen. Durch die Möglichkeit, die die Autorin anbietet, das Stück auch mit Schauspielern und Puppen zu inszenieren, liegt dem Stück eine weitere kunstvolle Abstraktion der realen Problematik vor.

Vielfältige Dramatik

Mit dem Ende der Zusammenarbeit mit dem Grips Theater stellte sich für die Autorin eine neue Situation für ihre Theaterarbeit. Zum einen hatte sie ihr „Haus-Theater“ verloren, zum anderen eröffneten sich neue Allianzen mit anderen Künstlerinnen und Künstlern. Tuckermanns dramatisches Schaffen stellte sich breiter und vielfältiger auf. Die Autorin kam „weg von dem einen Stil“ (vgl. Tuckermann/Fangauf, 2018). Neben der intensiven Zusammenarbeit mit den türkischen Theaterschaffenden beschäftigt sie sich mit dem Schreiben unterschiedlicher dramatischer Formen. Für das Musiktheater für Kinder schrieb sie das Libretto Silberflügel, bearbeitet eigene Kinderbücher für die Bühne (Nusret und die Kuh), entwarf mit Maus liebt Kater eine Fabelgeschichte für Kinder und hat sich einen Namen als Theaterübersetzerin aus dem Englischen gemacht. Sechs Stücke des walisischen Dramatikers Nick Wood liegen in ihrer Übersetzung ins Deutsche (zusammen mit Guntram Weber) vor.

Weitere Stücke von Anja Tuckermann, die sich mit Jugendthemen und Problemen von Kindern in unserer Gesellschaft beschäftigen, sind Angst im Kopf (1999, zusammen mit Guntram Weber), ein Stück zum Thema Rechtsradikalismus, Pauli mittendrin (2003, zusammen mit Michael Kollberg), ein Stück zum Thema Scheidungskinder, Fünf ist meine Lieblingszahl (2012), ein Stück zum Thema Demenz, und Alle da! (2015), ein Stück Musiktheater nach ihrem gleichnamigen Kinderbuch über Krieg und Flucht. Nicht alle diese Stücke sind bisher uraufgeführt worden. Ihr Stück Suche Oma wurde 2015 ebenfalls im Tiyatro Tempo in Ankara uraufgeführt.

Als ein weiteres Beispiel für die Vielfalt ihres dramatischen Schreibens kann das Stück Palmström, Korf und Kunkel stehen, 2007 frei nach Gedichten von Christian Morgenstern entstanden. Mit seinen Gedichten hatte sich Anja Tuckermann schon seit langem beschäftigt. Sie dienten ihr nicht nur als Inspiration für ein Theaterstück, sondern auch als Inspiration für die Schreibwerkstätten mit Jugendlichen.

Ich habe diese Gedichte immer morgens in der U-Bahn gelesen, auf dem Weg zu einer Schreibwerkstatt. Beim Gedichtelesen habe ich ein paar Mal meine Station verpasst. Ich habe dann in der U-Bahn mit dem Schreiben des Stückes begonnen. (Tuckermann/Fangauf 2018)

Palmström, Korf und Kunkel basiert aus Morgensterns Galgenliedern. Die titelgebenden Namen stehen für drei Arbeitslose, schwer vermittelbar, die der kafkaesken Bürokratie der Arbeitsvermittlung ihre eigene Kreativität und Phantasie entgegensetzen. Sie gründen die Gesellschaft zur Rettung der Lebensfreude. Statt Formulare im Arbeitsamt auszufüllen, nutzen sie ihre Kreativität und machen Erfindungen besonderer Art und Weise, z.B. ein Bühnenhaus mit drehbarem Zuschauerraum und vier Bühnen (die Vorstellung dauert ein Jahr, pro Jahreszeit ein Akt), eine Mittagszeitung, bei dessen Lektüre man satt wird oder Korfs Uhr, die vorwärts und rückwärts geht. „Denn wenn die Zeit dich vorwärts drängt, die Korfsche Uhr dich rückwärts lenkt.“ (S. 32) Anja Tuckermann hat in ihrem Stück Personal und Handlung teils wörtlich aus Morgensterns Gedichten entnommen und diese in Dialoge und Szenen zu einem absurden, komödiantischen Theaterstück für Erwachsene umgearbeitet. Die Uraufführung fand 2007 im Mittelsächsischen Theater Freiberg und Döbeln statt.

Im September 2021 fand am Jungen Schauspiel Düsseldorf die jüngste Uraufführung eines Stückes von Anja Tuckermann statt. Die Autorin hatte ihr eigenes Bilderbuch Der Mann, der eine Blume sein wollte dramatisiert und ein Stück über einen Bahnwärter, der sich nach Veränderung sehnt, vorgelegt. Der Mann möchte nicht länger nur das tun, was man von Männern erwartet, er möchte eine Blume sein, vielleicht auch eine Frau. Er möchte sich verkleiden, als Mann Frauenkleider tragen, auch wenn er befürchtet, ausgelacht zu werden.

In ihrem aktuellsten Stück hinterfragt die Autorin Rollenbilder und Rollenklischees. Der Verlag bietet das Stück auch für das Figurentheater an, so dass es nach der Uraufführung im Februar 2022 zu einer zweiten Inszenierung kam, am Puppentheater Magdeburg. Im theaterpädagogischen Material heißt es dort:

Uns als Produktionsteam hat die Geschichte zum Nachdenken über viele spannende Themen angeregt: den Wunsch nach Veränderung im Leben, dabei einschränkende Geschlechterstereotype, die Hinwendung zur Natur und mehr. Hausregisseur Leonhard Schubert legt den Fokus der Inszenierung auf die visuelle Erzählkraft und gestaltet die Geschichte dieser Mensch-Pflanzen-„Verwandlung“ ganz ohne Worte: Die Spielenden animieren die Puppe(n) zu dritt, sodass ihr volles Bewegungspotenzial ausgeschöpft wird. So sehen wir den Mann zweifeln und hoffen, enttäuscht sein und euphorisch tanzen - das, was im Außen und im Innen der Figur passiert, wird deutlich durch ihren körperlichen Ausdruck. (vgl. www.puppentheater-magdeburg.de)

Fazit

Im Zentrum von Tuckermanns Interesse für die dramatische Literatur und das Theater stehen die Kinder und Jugendlichen, als Publikum sowie als kreative Potentiale, die entwickelt und gefördert werden sollten. Ihre Theaterverständnis ist themenbezogen, d.h. es kommt auf Geschichten an, die mit der Lebenswelt und den Erfahrungen der Kinder und Jugendlichen verbunden sind. Kinder wollen im Theater Ansprache erfahren und lassen sich faszinieren von den Menschen auf der Bühne, „die man nicht wegklicken kann.“ (vgl. Tuckermann/Fangauf 2018) Mit kritischem Blick urteilt die Autorin über den Verlust von erzählten und gespielten Geschichten im aktuellen, postdramatischen und performativen Kindertheater.

Ich sehe, dass die Kinder durch dramatisch erzählte Geschichten mehr beteiligt sind, als wenn sie die wunderbaren poetischen, choreografischen Aufführungen sehen. Da staunt man, ist beeindruckt, aber man bleibt auch ein bisschen außen. (Tuckermann/Fangauf 2018).

Anja Tuckermanns Theater ist eines, das sich für Demokratie, kulturelle Vielfalt und Toleranz einsetzt. Ihre Bühne soll eine politische sein, ihre Dramatik einen Beitrag für eine gerechtere Gesellschaft leisten. Auf ihrer Bühne sollen die Kinder direkt angesprochen und einbezogen werden. Somit wird die Voraussetzung geschaffen, jungen Menschen ästhetische und politische Erfahrungen zu ermöglichen. Mit den Mitteln der Kunst.

Literaturverzeichnis

Chronologisches Verzeichnis der Theatertexte von Anja Tuckermann

Asra – Die von gegenüber. Frankfurt am Main: Verlag Autorenagentur 1996 (Aufführungsrechte: Felix Bloch Erben Verlag für Bühne Film und Funk, Berlin). Ab 8 Jahren geeignet [UA: 19.01.1996, Grips Theater Berlin (Regie: Dietrich Lehmann)]

Komm, wir knutschen. Frankfurt am Main: Verlag Autorenagentur 1998 (Aufführungsrechte: Felix Bloch Erben Verlag für Bühne Film und Funk, Berlin). Ab 6 Jahren geeignet [UA 13.3.1998, Grips Theater Berlin (Regie: Natascha Kalmbach) ]

Angst im Kopf. (zusammen mit Guntram Weber) Frankfurt am Main: Verlag Autorenagentur 1999 (Aufführungsrechte: Felix Bloch Erben Verlag für Bühne Film und Funk, Berlin). Ab 14 Jahren geeignet [UA: 07.10.1999, widu-theater Oldenburg (Regie: Rotraut de Neve)]

Ganz große Pause. Frankfurt am Main: Verlag Autorenagentur 2001 (Aufführungsrechte: Felix Bloch Erben Verlag für Bühne Film und Funk, Berlin). Ab 13 Jahren geeignet [UA: 22.02.2001, Grips Theater Berlin (Regie: Frank Panhans)]

Pauli mittendrin. Berlin: Verlag Autorenagentur 2003 (Aufführungsrechte: Felix Bloch Erben Verlag für Bühne Film und Funk, Berlin). Ab 6 Jahren geeignet [Frei zur UA]

Palmström, Korf und Kunkel. Berlin: Verlag Autorenagentur 2007 (Aufführungsrechte: Felix Bloch Erben Verlag für Bühne Film und Funk, Berlin). [Stück für Erwachsene. UA: 10.06.2006, Mittelsächsisches Theater Freiberg und Döbeln (Regie: Klaus-Peter Fischer)]

Maus liebt Kater. Berlin: Verlag Autorenagentur 2010 (Aufführungsrechte: Felix Bloch Erben Verlag für Bühne Film und Funk, Berlin). Ab 5 Jahren geeignet [Frei zur UA]

Fünf ist meine Lieblingszahl. Berlin: Verlag Autorenagentur 2012 (Aufführungsrechte: Felix Bloch Erben Verlag für Bühne Film und Funk, Berlin). Ab 6 Jahren geeignet [Frei zur UA]. Ausgezeichnet mit dem Stipendium zum Deutschen Kindertheaterpreis 2012.

Warten, dass das Leben beginnt ... Berlin: Verlag Autorenagentur 2012 (Aufführungsrechte: Felix Bloch Erben Verlag für Bühne Film und Funk, Berlin). Ab 12 Jahren geeignet [UA 18.01.2012, Landestheater Burghofbühne Dinslaken (Regie: Ismael Deniz]

Alle da!. Berlin: Felix Bloch Erben Verlag für Bühne Film und Funk. Ab 10 Jahren geeignet. [Nach dem gleichnamigen Kinderbuch von Anja Tuckermann von Göksen Güntel. UA 03.10.2015, atze Musiktheater Berlin (Regie: Göksen Güntel)]

Suche Oma. Berlin: Felix Bloch Erben Verlag für Bühne Film und Funk. Ab 6 Jahren geeignet [UA 22. Februar 2015, Tiyatro Tempo, Ankara (Regie: Haluk Yüce), frei zur Deutschen Erstaufführung]

Silberflügel. Berlin: Felix Bloch Erben Verlag für Bühne Film und Funk 2016. Ab 6 Jahren geeignet [Frei zur UA]

Der Mann, der eine Blume sein wollte. Berlin: Felix Bloch Erben Verlag für Bühne Film und Funk. Ab 4 Jahren geeignet [UA 24. September 2021, Junges Schauspiel Düsseldorf (Regie: Fabian Rosonsky)]

weitere Primärliteratur

Anja Tuckermann im Interview mit Henning Fangauf, Berlin 30. 6. 2018, unveröffentlicht.

Sekundärliteratur

Brecht, Bertolt: Über Musik. In: Bertolt Brecht: Schriften zum Theater. Gesammelte Werke, Band VII. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1967. S. 472 – 497.

Fangauf, Henning: TAtSch – TheaterAutoren treffen Schule. Projektmaterial. Frankfurt am Main: Kinder- und Jugendtheaterzentrum in der Bundesrepublik Deutschland, 2009.

Fangauf, Henning / Ingeborg von Zadow (Hrsg.): Dialoge – Szenisches Schreiben mit Jugendlichen. Eine Projektdokumentation. Frankfurt am Main: Kinder- und Jugendtheaterzentrum in der Bundesrepublik Deutschland, 2013.

Grips Theater (Hrsg.): Das Grips Buch. Berlin: Ed. Hentrich, 1994.

Landestheater Burghofbühne Dinslaken: Kathrin-Türks-Preis 2012, Dinslaken 2012.

Manfred Pfister: Das Drama. München: UTB, 1994.

Simon, Odile (Hg.): Das Grips Buch 2. Theatergeschichte Band 2 (1994 – 1999), Berlin: Grips Theater, 1999.

Tuckermann, Anja / Henning Fangauf: Interview mit der Autorin in Berlin am 30. Juni 2018 (unveröffentlicht).

Wartemann, Geesche: Recherche im zeitgenössischen Theater für junges Publikum. In: Kinder- und Jugendtheaterzentrum in der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.): Wer spricht? Rechercheorientierung im Kinder- und Jugendtheater. Frankfurt am Main: Kinder- und Jugendtheaterzentrum in der Bundesrepublik Deutschland, 2018. S. 14-15.

Information zu der Autorin

www.literaturport.de/lexikon/anja-tuckermann

www.felix-bloch-erben.de


Dieser Text beruht in aktualisierter Fassung auf dem Beitrag von Henning Fangauf: Ästhetische und politische Erfahrungen im Theater machen – Die Dramatikerin Anja Tuckermann. In: Petra Josting und Iris Kruse (Hrsg.): Anja Tuckermann. kopaed München 2018.

Einleitungsbild: Pressefoto, Piet Ekman