Inhalt

Literatur, zumindest dort, wo sie als Text vorliegt, begegnet zunächst in Gestalt der Schrift und bedarf – wie nicht zuletzt die Rezeptionsästhetik deutlich gemacht hat – einer Konkretisierung respektive Aktualisierung in Form von Vorstellungen und Gedanken durch ihre Leser*innen, will sie ästhetisch wirken und erfahrbar werden. Auch wenn diese imaginative Konkretisierung an die materielle Textgrundlage zurückgebunden ist, bleibt sie selbst doch immateriell. Für Literaturausstellungen, die eine möglichst umfassende, produktive Begegnung mit den Texten ermöglichen wollen, stellt sich so die Frage, wie zu einem solchen ‚Übersetzungsprozess‘ des materiellen Mediums Text in Immaterielles angeregt werden kann, sodass hieraus idealerweise genuin ästhetische Erfahrungen resultieren.

Frühere, konventionelle Ausstellungsformen, die Literatur oft als „[l]iterarische Memorialstätten“ (S. 234) in Form von Dokumenten zu biographischen, rezeptionsgeschichtlichen sowie Zeugnissen der Ereignis- oder Kulturgeschichte zur Ausstellung brachten, mit Einschränkung aber auch Ausstellungsformen, die in der Tradition einer „Schauphilologie“ (ebd.) stehen und Literatur quasi archivarisch anhand ihres Trägermediums präsentieren – also primär auf Grundlage von Handschriften, Druckfahnen (gerade mit Blick auf Überarbeitungsschritte) sowie Erstauflagen –, haben hier ihre Grenzen. Neue Ausstellungsformate, die in Form von Szenografie Literatur im Raum symmedial inszenieren und sie so intermodal rezipierbar werden lassen, bieten im Gegensatz dazu „bisher ungeahnte Möglichkeiten des thematischen Zugriffs und damit auch neue Anschlussfähigkeiten an den Literaturunterricht“ (S. 13). Diese Formen der Literaturausstellungen stellen sich der Herausforderung, den literarischen Text in seiner rezeptiven Immaterialität so zur Ausstellung zu bringen, dass er in Form einer immer auch leiblich-sinnlich gedachten Begegnung ästhetisch erfahrbar wird.

Sebastian Bernhardts Ziel in der vorliegenden Monographie, die zugleich seine 2022 angenommene Habilitationsschrift an der Technischen Universität Braunschweig bildet, ist es einerseits, die vielen verschiedenen Facetten dieser neuen Praktiken der Begegnung mit Literatur zu „kartographier[en]“ (ebd.), ihre theoretischen Hintergründe zu beleuchten und sie so zugleich konzeptionell wie terminologisch präzise zu erfassen (vgl. S. 16). Andererseits leitet er hieraus ergiebige didaktische Schlussfolgerungen mit Blick auf Kontexte außerschulischen wie schulischen Lernens ab, freilich unter Hinweis darauf, dass im letztgenannten Bereich Ausstellungsbesuche nicht nur, was ihren Ort betrifft, sich von konventionellem Schulunterricht und seinen Zielsetzungen unterscheiden.

Im Vordergrund der Arbeit steht aber zunächst die diskursive wie praxeologische Herleitung und Aufarbeitung dessen, was grundlegend unter dem Konzept von Literaturausstellungen zu verstehen ist. Dieser Teil setzt ein mit einem kurzen Überblick über das, was für die Arbeit museologisch grundlegend relevant ist, sodass die weiteren Ausführungen, die sich explizit nicht mit dem Museum, sondern dem Format der Ausstellung befassen, sinnvoll in die hier dargelegten Entwicklungen insbesondere auch der neuen Museologie eingebettet werden. Dies betrifft in erster Linie die sich im Zuge dieser Entwicklungen als verengt erweisende „Trennung von materiellen und immateriellen oder nichtmateriellen Gegenständen“ (S. 49) sowie die sich hieran anschließende Form von Ausstellungsinszenierungen, die mit szenografischen Verfahren arbeiten, sodass sie „das Medium Raum ebenso wie die leibliche Präsenz der Besucher*innen bewusst aus[nutzen] und so sinnlich-leibliche Erfahrungen [ermöglichen]“ (ebd.).

Ausgehend hiervon wird das zentrale Thema näher beleuchtet: das Konzept der Literaturausstellung, auch hier anhand kurzer historischer Kontextualisierungen, im Anschluss dann hinsichtlich der Entwicklungen und Möglichkeiten jener neueren, symmedial strukturierten Formen von Ausstellungskonzepten. Aus einer Aufarbeitung bisheriger methodologischer Ansätze der Ausstellungsanalyse (vgl. Kapitel 4) entwickelt Bernhardt in konkreter Auseinandersetzung mit fünf verschiedenen Beispielen von Literaturausstellungen (dem Literaturmuseum der Moderne in Marbach am Necker, dem Kleist-Museum im Frankfurt an der Oder, der GRIMMWELT in Kassel und dem Günter-Grass- sowie dem Buddenbrookhaus in Lübeck) nach und nach Kategorien und Termini, die dem Ziel, das „multimodale Symmedium Ausstellung […] beschreib-, analysier- und interpretierbar zu machen“ (S. 126), gerecht werden. Hierzu bedient er sich eines explorativen empirischen Erhebungsverfahrens, das sich zum einen auf „[e]thnografische Ausstellungsbeobachtung und -auswertung“ durch ihn selbst und zum zweiten auf „[h]albstrukturierte Expert*inneninterviews mit Kurator*innen und Museumspädagog*innen“ (131) stützt (vgl. zu den Details S. 130-145). Die Auswahl der Ausstellungen beruht primär darauf, dass diese den Anspruch haben, „Literatur als immaterielles Objekt“ (S. 129) in den Ausstellungsraum zu ‚übersetzen‘, und verfolgt zugleich das Ziel, eine Bandbreite verschiedener Möglichkeiten eines solchen Vorgehens abzubilden.

Die Ausstellungsanalysen arbeiten die zugrunde liegenden unterschiedlichen Konzepte auf beiden Ebenen (in Form der eigenen Beobachtungen des Verfassers und der Interviews) heraus. Im dritten Zwischenfazit (vgl. S. 227-242) wird dann ausgehend von den konkreten Beobachtungen und Interviews in den Ausstellungen abstrahiert und eine „Kartografie literaturmusealer Ausstellungselemente“ (S. 17) entworfen. Sie zeichnet sich auch darüber aus, dass sie Übergangsformen zwischen den tradierten Modellen der „literarische[n] Memorialstätte[]“ und der „Schauphilologie“ hin zu den neueren, symmedial und intermodal angelegten Ausstellungsformen, in denen in Form szenografischer Inszenierungen im Ausstellungsraum die „Relevanz der Materialität“ (S. 234) zunehmend zugunsten des Immateriellen zurückgefahren wird, kenntlich macht. Diesbezüglich wird begrifflich zunächst zwischen primär inhaltsbezogenen Ausstellungsformen unterschieden, die Gestaltungsmerkmale des Textes wie seine erzählerische Vermittlung und seine Raumsemantik inszenieren, sowie rezeptionsbezogenen Ausstellungsformen, die die Art und Weise des Rezeptionsprozesses selbst, auch unter konkretem Einbezug der leiblichen Präsenz der Ausstellungsbesucher*innen und ihrer individuellen jeweiligen Biographien, in den Raum übertragen (vgl. S. 234 /S. 114). Am Ende dieses Zwischenfazits gelangt Bernhardt zu einer Differenzierung zwischen acht verschiedenen Formen (vgl. S. 235-240) die jeweiligen Gegenstände im literarischen Ausstellungsraum zu präsentieren; ihre jeweiligen Abgrenzungen untereinander sind in Teilen fließend.

Die so gewonnenen Ergebnisse werden in den beiden Schlusskapiteln 6 und 7 didaktisch kontextualisiert und ausgewertet. Im Blick sind hierbei sowohl außerschulische wie schulische Zusammenhänge. Insbesondere die Ausführungen zur Anschließbarkeit an verschiedene Formen literarischen Lernens erweitern auf didaktischen Ebene maßgeblich das Potential von Literaturausstellungen und zeigen neue Perspektiven unter Rekurs auf die neuen Ausstellungsformen auf, was nicht zuletzt auch mediendidaktische Lernprozesse betrifft. Hierzu werden Lehrkräften umfangreiche konkrete Hinweise gegeben, die die Vorbereitung von Ausstellungsbesuchen erheblich erleichtern können und mögliche Voraussetzungen, Zugangsebenen, Zielsetzungen, Formen einer produktiven Weiterarbeit im Unterricht etc. abzuklären helfen.

Bernhardt versucht in diesem Teil erst gar nicht, dies in unmittelbaren Einklang mit schulischen Lehr- oder Bildungsplänen zu bringen, die sich an Weinerts rein kognitiv ausgerichtetem Kompetenzbegriff orientieren (müssen) und damit ihrem literarischen Gegenstand nur begrenzt gerecht werden können. Vielmehr macht er von Beginn an deutlich, dass es sich bei den im Zusammenhang mit Ausstellungsbesuchen dargelegten Lehr-/Lernprozesse um solche handelt, die über einen Kompetenzerwerb hinausgehen und Schüler*innen gerade deshalb neue Perspektiven im Umgang mit Literatur aufzeigen können. Ausgerichtet sind sie an der Ermöglichung ästhetischer Erfahrungen – diese Fokussierung zieht sich durch Bernhardts Abhandlung von der ersten bis zur letzten Seite –, und dem spielt zudem die zweite Fokussierung auf die Symmedialität zu, die neben der rein kognitiven Auseinandersetzung mit Literatur auch deren leiblich-sinnlich vermittelte Begegnung thematisch werden lässt.

Kritik

Bernhardts Abhandlung arbeitet zunächst detailliert die Geschichte und den Diskurs um Literaturausstellungen auf und setzt sich im Zuge dessen auch fundiert mit Zweifeln beziehungsweise möglichen Gegenargumenten hinsichtlich der Frage, ob Literatur überhaupt ausstellbar sei, auseinander (vgl. insb. Kapitel 3.1., S. 53-61). Diese Einwände kann der Verfasser schlüssig widerlegen und kommt auf dieser Grundlage zu einer begründeten Einschätzung, wie Literatur unter Rekurs auf Verfahren der Szenografie im Raum zur Ausstellung gebracht werden kann. Dies stellt wiederum die Basis für eine erste Einordnung verschiedener Ausstellungsformate (vgl. S. 109-114) dar, die zur überzeugenden exemplarischen Auswahl von Literaturausstellungskonzepten im Folgekapitel beiträgt.

Deren Untersuchung beruht auf einem durchdachten empirischen Konzept (vgl. Kapitel 4.2, S. 126-145), das aus der Auseinandersetzung mit verschiedenen Methoden einer Analyse musealer Ausstellungsformen (vgl. Kapitel 4.1, S. 116-126) hervorgeht. Sowohl mit Blick auf die geführten Interviews als auch hinsichtlich Bernhardts eigener Beobachtungen wird es im fünften Kapitel so möglich, die jeweiligen Formen der Literaturausstellungen nicht nur nachvollziehbar darzulegen (hilfreich bei der Lektüre ist in diesem Teil der Einbezug zahlreicher farblicher Abbildungen aus den jeweiligen Räumen, die viele Gedanken sinnfällig werden lassen), sondern auch auf Basis der entwickelten Kategorien zu systematisieren und so eine differenzierte Kartographie der musealen Form ‚Literaturausstellung’ zu entwickeln. Sie beinhaltet eine Systematik von acht Ausstellungsformaten, welche auch konventionelle Ausstellungsformen, in denen Literatur anhand von Gegenständen im Raum präsentiert wird, mit berücksichtigt (vgl. S. 235-240: das „Umfeld von Literatur“ sowie die „Präsentation/Ausstellung der Trägermedien von Literatur“, die beide noch an der Materialität von Literatur ansetzen; dann die „[f]ormale Betrachtung von Literatur“, die an konkreten Sprachbeispielen ansetzt, sich dabei aber von objektgebundenen Präsentationsarten löst und so an „der Grenze zwischen materiellen und immateriellen Objekten“ anzusiedeln ist; weiterhin die fünf Formen, bei denen Literatur immateriell in den Raum übertragen wird, und zwar in Form einer „Konkretisierung literarischer Beschreibungen im Raum“, der „Raumsemantik im Raum“, der „Erzähltheorie im Raum“, der „Elementarisierung von Szenen und soziale[r] Szenografie“ oder der „Übertragung des Rezeptionsprozesses in den Raum“).

In gleicher Präzision werden in den Folgekapiteln dann die bisherigen Ergebnisse für die didaktischen Vermittlungsprozesse ausgewertet und fruchtbar gemacht. Dies gilt sowohl für die Rückbindung an den Begriff und die Inhalte literarischer Lernprozesse sowie ästhetischer Erfahrungen als auch für die Konkretisierungen etwa im Kontext der Vorbereitung von Ausstellungsbesuchen durch Schulgruppen. Zur Leser*innenfreundlichkeit tragen hier (wie auch zuvor) Schaubilder und kurze Übersichten (beziehungsweise zuvor Zwischenfazits) bei, die die wesentlichen Gedanken bündeln können.

Fazit

Bernhards Abhandlung bringt die für das Thema und die Fragestellung relevanten Überlegungen und Untersuchungen so zur Darstellung, dass der Kontext und Fortgang der Argumentation stets präsent gehalten wird; kritisch zu sehen sind einzig einige Redundanzen. Insbesondere die ausgewählten Literaturausstellungen werden so lebendig und nachvollziehbar präsentiert, dass sich bei der Lektüre oft der Wunsch einstellt, diese literarischen Räume baldmöglichst selbst zu erkunden. Der Band erfüllt so nicht nur den selbstgesetzten Anspruch, mittels eines in sich kohärenten, begrifflich präzisen und theoretisch überzeugend hergeleiteten Instrumentariums zu konzeptioneller Klarheit hinsichtlich des Formats ‚Literaturausstellung‘ auch mit Blick auf neue, symmediale Formen dieses Untersuchungsgegenstands beizutragen. Er überzeugt auch und gerade in Form der hieran angebundenen didaktischen Reflexionen. Sie erweitern das Potential von Ausstellungsbesuchen erheblich und können mit dazu beitragen, den Gegenstand ‚Literatur‘ in der ganzen Vielfalt individueller wie kulturell bedeutsamer Bezüge erfahrbar werden zu lassen und so Ebenen mit abzudecken, die ein rein kompetenzorientierter Literaturunterricht derzeit nicht abzubilden vermag. Auch wenn hiermit „kein messbarer Effekt“ erzielt werde, könne dies nicht, so Bernhardt, als „Argumente gegen einen Ausstellungsbesuch“ geltend gemacht werden (S. 298): „So darf gerade der Literaturunterricht sich in Zeiten der Kompetenzorientierung nicht nur auf einen unterrichtlichen Output fokussieren“ (ebd.).

Titel: Literarästhetisches Lernen im Ausstellungsraum – Literaturausstellungen als außerschulische Lernorte für den Literaturunterricht
Autor/-in:
  • Name: Sebastian Bernhardt
Erscheinungsort: Bielefeld
Erscheinungsjahr: 2023
Verlag: transcript
ISBN-13: 978-3-8376-6503-1
Seitenzahl: 340
Preis: 49€
Vor einem einfarbig orangen Hintergrund sind die Daten der Publikation zu lesen. Sebastian Bernhardt, Literar-ästhetisches Lernen im Ausstellungsraum. Literaturausstellungen als außerschulische Lernorte für den Literaturunterricht. transcript Verlag. Reihe Literaturdidaktik und literarische Bildung