Inhalt

Der von den Literaturdidaktikern Sebastian Bernhardt und Jan Standke herausgegebene und 2022 als dritte Publikation in der Reihe Literaturdidaktik und literarische Bildung im Bielefelder transcript Verlag erschienene Band Historisches Erzählen in der Gegenwartsliteratur. Positionen der germanistischen Literaturdidaktik versammelt auf 360 Seiten 20 Beiträge von Autor*innen aus dem im Untertitel genannten und angrenzenden Fachgebieten. Auf eine Einleitung der Herausgeber folgen zwanzig Beiträge, die, unterschiedlich gewichtend, eine fachwissenschaftliche Erschließung und eine darauf fußende fachdidaktische Perspektivierung der jeweiligen Geschichte erzählenden Medien leisten. Das Spektrum dieser zur Disposition stehenden Erzählungen (unterschiedlicher medialer Provenienz) reicht von spezifischer Kinder- und Jugend- über All-Age- bis hin zur Allgemeinliteratur, von seitens der Fachwelt bereits stärker wahrgenommenen Texten wie beispielsweise Christian Krachts Imperium (2012) bis hin zu Werken wie Oliver Plötzschs populären Faustus-Romanen (2018 und 2019), deren fachwissenschaftliche Erschließung bis dato ein Desiderat darstellte.

Kritik

Bernhardt und Standke nehmen aus literaturdidaktischer Perspektive „[h]istorisches Erzählen in der Gegenwartsliteratur“ (Buchtitel) in den Blick. Wenngleich dieses im engeren Sinne literarische Erzählen von Geschichte im Mittelpunkt des Bandes steht, werden in den Einzelbeiträgen auch Erzählformen anderer medialer Provenienz verhandelt. Dies wird insbesondere an dem Beitrag von Raphaela Tkotzyk und Kim Carina Hebben anschaulich, der mit dem Erzählkomplex um Volker Kutschers Gereon-Rath-Kriminalromane (seit 2008), die Fernsehserie Babylon Berlin (seit 2017) und deren webbasierte Zusatzangebote das Erzählen von Geschichte in einem erweiterten, letztlich trans- und intermedialen Verbund aus literatur- respektive mediendidaktischer Perspektive in den Blick nimmt. Auch die vorgenommene zeitliche Einordnung der verhandelten Gegenstände als Gegenwartsliteratur ist insofern etwas unscharf, als vereinzelt auch inzwischen zeithistorische Texte betrachtet werden, wie der vor nunmehr fast einem halben Jahrhundert erschienene 68er-Roman Heißer Sommer (1974) von Uwe Timm im Beitrag von Larissa Schuler et al.

Die Herausgeber, Bernhardt fungiert zusätzlich auch als Beiträger, schicken den Beiträgen eine konzise Einleitung voraus, die in nachvollziehbarer Weise die Anlage des Bandes umreißt, einordnet und abgrenzt. Eingedenk manipulativer diskursiver Vereinnahmungen von Geschichte in der jüngsten Gegenwart, vor allem aber angesichts einer dieser Tage zugleich in hohem Maße präsenten „ästhetisierte[n] Auseinandersetzung mit Geschichte im medienkulturellen Zusammenhang“ (S. 11) und deren breiter Rezeption durch junge Zielgruppen, artikulieren Bernhardt und Standke ihr Plädoyer „für eine Literaturdidaktik, die aktuelle ästhetische Entwicklungen und Rezeptionspräferenzen eines breiten Publikums ernst nimmt“ (ebd.). In dieser Legitimation des verhandelten Gegenstandbereiches klingt bereits eine abgrenzende Einordnung des Bandes an, der eben nicht primär auf ein historisches Lernen im Sinne der Vermittlung geschichtlichen Faktenwissens abhebt. Vielmehr geht es hier um „die Betrachtung der ästhetischen Dimension des historischen Erzählens und ihrer diesbezüglich nachrangig erfolgenden Bezugnahme auf die Historie“ (S. 18). Diese Akzentuierung ist gegenstandsorientiert plausibel, da sie den Eigengesetzlichkeiten fiktionalen Erzählens Rechnung trägt. Für die schulische Perspektivierung ist sie ebenfalls eminent wichtig, will der Literaturunterricht die Literarizität seiner Gegenstände nicht aus dem Blick verlieren.

Die Akzentsetzung auf die Ästhetik respektive Literarizität historischer Erzählungen und die Hintanstellung ihrer etwaigen mimetischen Referenzialität mündet nun also nicht in eine Delegitimierung der Eignung für den Literaturunterricht. Vielmehr erwächst aus ihr ein anderes (unter anderem) geschichtsbezogenes Potenzial: Im Hinblick auf die didaktischen Perspektivierungen soll im Band „der Beobachtung nachgegangen werden, dass in den (postmodernen bzw. in ihrer Tradition stehenden) Romanen sehr plastisch das Spannungsverhältnis von Historie und Ästhetisierung vorgeführt und reflektiert wird“ (S. 16). Hier wird unter anderem auf folgende, einem postmodern-relativistischen Geschichtsverständnis entsprechende, in den fiktionalen Erzählmedien verhandelte Gesichtspunkte abgehoben, die im Rahmen vieler der folgenden Beiträge dann auch tatsächlich mit unterschiedlicher Gewichtung entfaltet werden: die grundsätzliche Unzuverlässigkeit der Erinnerung und der subjektiven Perspektivierung von (vergangenen) Geschehnissen; die unumgängliche Angewiesenheit der Verständigung über Geschichte auf mediale Repräsentation und auf entsprechende symbolische Überformungen (bei sprachlichen Texten vor allem narrative Strukturmomente, etwa die Überführung des Erzählgegenstandes in Plot-Strukturen); metahistoriographische Reflexionen hinsichtlich des medial bedingten Konstruktcharakters auch historiographischer (also: non-fiktionaler) Geschichtsdarstellung; autopoetologische Reflexionen hinsichtlich eines freien, ästhetisierenden und postmodern spielerischen Umgangs mit dem historischen Erzählgegenstand und der diesbezüglichen Quellenlage etc.

Angesichts dieser im Hinblick auf ein Gros der im Sammelband verhandelten Erzählmedien gegenstandsgerechten Fokussierungen soll im Hinblick auf schulische Verwendungskontexte allerdings auch Folgendes nicht unerwähnt bleiben: Zunächst kann eine gewissermaßen grundlegende Diskrepanz konstatiert werden zwischen der nachdrücklichen Akzentuierung eines konstruktivistischen, teils postmodern-relativistischen Konzepts von Geschichte und der ihrem Wesen nach, so Harro Müller-Michaels (1990), „hoffnungslos modern[en]“ Didaktik und ihrer Angewiesenheit auf „Ideale der Ganzheitlichkeit“ (S. 44). Damit verbunden ist dann nicht zuletzt ein hoher fachlicher Anspruch an die Schüler*innen und eine Herausforderung deren Abstraktionsvermögens. Mit diesen Hinweisen sei nun nicht gesagt, dass Reflexionen und Einordnungen dieser Art im Band fehlten und Lösungswege grundsätzlich nicht in Aussicht gestellt würden. Kritisch hinterfragt werden kann vor den genannten Hintergründen jedoch die weitestgehende Beschränkung des Bandes auf Beiträge, die nach dem oben beschriebenen Schema (fachwissenschaftliche Erschließung + didaktische Perspektivierung) verfahren. Gerade aus Sicht einer forschungsorientierten Literaturdidaktik hätten sich Beiträge aus und mit zusätzlichen, komplementären Perspektiven angeboten.

Der Beitrag von Anna Lenz, der Pat Barkers Roman Niemandsland (1997) als „Traumaerzählung“ (S. 239) fokussiert, deutet eine solche mögliche Perspektive an: Auf fachwissenschaftliche Erschließung und darauf fußende Entwicklung eines Unterrichtsmodells erfolgt hier zusätzlich die analytische Auswertung einer von Lenz entsprechend durchgeführten einwöchigen unterrichtlichen Realisation im gymnasialen Oberstufenunterricht. Neben Potenzialen des unterrichtlichen Umgangs mit dem Roman wird so mit Blick auf die Lernvoraussetzungen der Schüler*innen exemplarisch deutlich, welchen elementaren Hürden ein Literaturunterricht sich gegenübersehen kann, wenn er ambitionierte Ziele wie die im Sammelband veranschlagten verfolgt: Offenkundig wurde nämlich, „dass den […] [SuS] 1.) eine klare Reflexion fiktionalen vs. faktualen Erzählens schwerfällt, die aber für die Lektüre historischer Romane unbedingt nötig wäre. […] 2. […] dass die […] [SuS] sich nur bedingt als politische, soziale Subjekte verstehen und dies eben auch ihr Leseverhalten beeinflusst“ (S. 253). Lenz‘ Beitrag deutet somit an, welchen heuristischen Mehrwert eine Verbreiterung des literaturdidaktischen Fokus innerhalb des Bandes hätte haben können: Eine Anreicherung um einige Beiträge aus dem Bereich der Unterrichtsforschung hätte eine erweiterte Grundlage für Einschätzungen hinsichtlich der Realisierbarkeit ambitionierter Vermittlungsziele schaffen können.

Im Hinblick auf die Anlage des Bandes uneingeschränkt positiv hervorzuheben ist dagegen die Abdeckung quasi des gesamten schulischen Alters- und Qualifikationsspektrums durch die in den einzelnen Beiträgen verhandelten literarischen respektive medialen Gegenstände: angefangen mit Eva-Maria Dichtls und Claudia Vorsts Beitrag über die Geschichte erzählenden Maus-Bilderbücher von Torben Kuhlmann, der zeigt, dass bereits in der Primarstufe eine Sensibilisierung für „Fiktionalität und Authentizität historischen Erzählens“ (S. 32) erreicht werden kann; oder ein Beitrag von Nils Lehnert, der in illustrierten Kinderbüchern Franziska Gehms und Horst Kleins unter anderem basale metahistoriographische Erzählverfahren identifiziert. Hinsichtlich altersgemäß auf die Sekundarstufe I abzielender Geschichtserzählungen seien exemplarisch die Beiträge zum jugendliterarischen Werk Mirijam Preßlers von Annette Kliewer sowie von Karin Richter und Jana Mikota genannt sowie ein Beitrag von Lisa Ingermann über eine Comic-Adaption des Tagebuchs der Anne Frank (1950). Zuletzt seien hier mit Blick auf das Anforderungsniveau der Oberstufe zwei Beiträge zu Christian Krachts Roman Imperium angeführt: Jennifer Witte konzentriert sich auf die postmoderne historische Erzählweise dieses Textes, während Stefan Brückl auf eine textinterne „Poetologie der Inkonsistenz“ (S. 205) hinweist; überzeugen kann nicht zuletzt die gute Abstimmung der beiden Beiträge aufeinander. Diese und sämtliche weitere Beiträge tragen in ihrer Anlage und Umsetzung zu den oben geschilderten Zielsetzungen des Bandes bei. Dabei beanspruchen sie jedoch gegenstandsadäquate Freiräume im Hinblick auf thematischen Fokus, methodische Ansätze und unterrichtsbezogene Zielsetzungen. So entsteht der Gesamteindruck eines in sich kohärenten Sammelbandes, in dem jeder Einzelbeitrag einen substanziellen Ertrag erzielt.

Fazit

Sebastian Bernhardt und Jan Standke legen mit ihrem Sammelband zum historischen Erzählen in der Gegenwartsliteratur (und weiteren medialen Formaten) eine substanzielle Publikation vor, die Aufmerksamkeit nicht zuletzt auch seitens Lehrer*innen verdient, die Orientierung im unterrichtlichen Umgang mit diesen teils herausfordernden Gegenständen suchen. Kritisiert werden kann dabei im Hinblick auf die konzeptionelle Anlage des Bandes wiederum ebendiese ausschließliche Konzentration auf Beiträge, die letztlich vor allem ‚Texte für den Unterricht‘ zurichten. Davon abgesehen liefert der Band seiner Zielsetzung gemäße, überzeugende Antworten auf die Frage nach der Bedeutung historischen Erzählens für den Unterricht. Die Einleitung gibt eine konzise, verständliche Einführung in das Problemfeld historisch-fiktionalen Erzählens und markiert überdies klar den in den folgenden Beiträgen zumeist wiedererkennbaren analytischen Fokus auf die „ästhetischen Dimensionen des historischen Erzählens“ (S. 18). Die 20 Einzelbeiträge befassen sich mit zahlreichen Spielarten historischen Erzählens jüngeren Datums innerhalb verschiedener Medien und über deren Grenzen hinweg. Dabei loten sie die je spezifischen Potenziale der jeweiligen Erzählmedien für deren adäquaten Einsatz (vor allem) für den Literaturunterricht aus. Ein dabei wiederum in vielen Beiträgen konstatierter Gesichtspunkt ist ein verstärkter Fokus gegenwärtigen fiktionalen Erzählens von Geschichte auf die Konstruiertheit jeglichen geschichtsbezogenen Erzählens. Nicht zuletzt diesem metahistoriographischen Charakter vieler dieser Geschichtserzählungen eingedenk entwickeln die Beiträge unterrichtliche Anschlussperspektiven, die ihrerseits stark auf den grundsätzlichen Konstruktcharakter von Geschichte auch jenseits fiktionaler Repräsentationsformen abheben.

Literaturverzeichnis

Eco, Umberto: Nachschrift zum ‚Namen der Rose‘. Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber. 12. Auflage. München: dtv, 2016.

Müller­-Michaels, Harro: Didaktik in postmodernen Zeiten. In: Jahrbuch der Deutschdidaktik 1989/90. S. 42-56.

Titel: Historisches Erzählen in der Gegenwartsliteratur. Positionen der germanistischen Literaturdidaktik
Herausgeber:
  • Name: Sebastian Bernhardt
  • Name: Jan Standke
Erscheinungsort: Bielefeld
Erscheinungsjahr: 2022
Verlag: transcript
ISBN-13: 978-3-8376-6379-2
Seitenzahl: 360
Preis: 49€
Vor einem einfarbig beigen Hintergrund stehen von oben bis unten zuerst die Namen der Herausgeber Sebastian Bernhardt und Jan Standke, der Titel des Bandes, Historisches Erzählen in der Gegenwartsliteratur. Positionen der germanistischen Literaturdidaktik und der Verlag, transcript sowie die Reihe, Literaturdidaktik und literarische Bildung