Inhalt

Gleich zu Beginn stellt Katrin Hörnlein klar, dass es sich bei ihrem Buch über Astrid Lindgren nicht um eine weitere Biografie der berühmten Schriftstellerin handeln soll – der Untertitel verdeutlicht ihre Absicht, Erinnerungen zu sammeln. Dabei schafft sie viel mehr als das: Hörnlein schaut sich die Wirkung des Werks von Lindgren 20 Jahre nach ihrem Tod an, geht ihrem kulturellen und gesellschaftlichen Vermächtnis auf den Grund, verfolgt Spuren zurück in die schwedische Idylle der Kindheit, bringt uns die Sommertage auf Furusund und die Deutschlandreisen nahe, aber auch die schwierigen Seiten des Berufsalltags im Verlag und des täglichen Lebens mit einem charakterschwachen Ehemann.

Hörnlein erhebt in ihrem Buch also keinen Anspruch auf Vollständigkeit, was die biografischen Stationen Lindgrens betrifft – sie sammelt vielmehr Gedanken zur Bedeutung Lindgrens in der Gegenwart. Denn die Wahrung von Lindgrens Werk und ihrem Vermächtnis beginnt direkt mit ihrem Tod 2002 und währt bis heute: Die Astrid Lindgren Erbengemeinschaft, die Lindgren-Gesellschaft, die öffentlichen Führungen durch Lindgrens Wohnung – all dies hält die Erinnerung an die schwedische Autorin und Nationalheldin wach und bannt kommende Generationen, die sie nicht mehr erlebt haben. Die Erkenntnisse der bisherigen Buchpublikationen zu Astrid Lindgren fließen hier ebenso mit ein, besonders die unlängst erschienenen privaten Briefwechsel mit den ihr nahestehenden Sara Schwardt (Deine Briefe lege ich unter die Matratze. Ein Briefwechsel 1971 - 2022, 2015) und Louise Hartung (Ich habe auch gelebt! Briefe einer Freundschaft, 2016), die Kriegstagebücher (Die Menschheit hat den Verstand verloren. Tagebücher 1939-1945, 2016) und Kjell Bohlunds Buch über Lindgrens Zeit beim Rabén und Sjögren Verlag (Die unbekannte Astrid Lindgren. Ihre Zeit als Verlegerin, 2021).

Das Buch wartet nach dem Vorwort mit dreizehn Kapiteln auf, die Lindgrens Geschichte vom Ende ausgehend erzählen: Hörnlein besucht zunächst die Stockholmer Wohnung von Astrid Lindgren in der Dalagatan, die heute der Öffentlichkeit zugänglich ist, und beginnt ihren Rundgang bei den Nachfahren, die eine Erbengemeinschaft gegründet haben. Im Zuge verschiedener Interviews deckt sie die politische und gesellschaftskritische Seite von Astrid Lindgren auf, die ihre Wurzeln in der bäuerlichen Kindheit haben, – aber auch ihre Tüchtigkeit als Sekretärin, ihr Sprachtalent und ihre persönliche Stenoschrift, die bis heute nicht entschlüsselt werden konnte. Auch die Illustrator*innen, Ilon Wikland und Björn Berg, deren Bilder bis heute mit den Lindgren'schen Texten nahezu untrennbar verwoben sind, werden gewürdigt und die Nachfahren zum Nachlass interviewt. Im Interview mit der Künstlerin Marit Törnqvist kommt die spannende Geschichte zutage, wie sie mit Lindgren in einem Heißluftballon über Stockholm Inspiration für ein Bilderbuch suchte und gemeinsam das Museum Junibacken planten.

Interessante Schwerpunkte sind die Verbindung Lindgrens zur Musik und ihre jahrzehntelange Zusammenarbeit mit dem Jazzmusiker Georg Riedel, dessen Filmlieder ins schwedische Gemeingut übergegangen sind und bis heute fortleben. Hörnlein spricht in ihrem Buch nicht nur mit verschiedenen Nachfahren Lindgrens, sondern mit allen, die mit Lindgren in enger Verbindung standen – beispielsweise der Pippi-Darstellerin Inger Nilsson sowie den Autorinnen Sara Schwardt und Kerstin Kvint.

Kritik

Katrin Hörnlein beginnt mit Astrid Lindgrens Todestag am 28. Januar 2002, über den sie sich mit Lindgrens Urenkel Johan Palmberg in deren Wohnung unterhält. Hörnleins Erzähl- und Schreibtalent zieht einen sofort in den Bann, sie zeichnet mit ihrer erzählenden Schreibfeder eindrucksvolle Bilder in den Kopf der Leser. In Astrid Lindgrens Wohnung gelangt sie über die Geschichten der Sofas zu Lindgrens hervorstechenden Charakterzügen: 

Stilistisch passen all diese Möbel überhaupt nicht zusammen, und genau deshalb verleihen sie dem Raum eine große Behaglichkeit. Hier haben keine Ikea-Einrichter die immer gleichen Module mit maximalem Hygge-Effekt zusammengestellt, in diesen Räumen hat ein Mensch gelebt, der nicht alle paar Jahre die Wände neu gestrichen und das gesamte Inventar ausgetauscht hat. […] Dass ein Gast einen Kaffeefleck auf dem Polster hinterlassen hat oder an einer Armlehne der Stoff schon ganz zerschlissen ist, war für die Besitzerin offensichtlich kein Grund, die Möbel rauszuschmeißen. (S. 17) 

Jahrelang konnte sich Lindgrens Familie nicht entschließen, die Wohnung aufzulösen, bis die Idee eines Museums entstand. 

2002 wurde auch die literarische Gesellschaft Astrid Lindgren Sällskapet gegründet, die eng mit der Familie zusammenarbeitet und sich mit ihr um die Wohnung in der Dalagatan kümmert – beispielsweise übernehmen die Mitglieder der Gesellschaft die Gruppen-Führungen durch die Wohnung. Die Rechte an Lindgrens Werk hat die Astrid Lindgren Company, ein Familienunternehmen, inne, die Besitzer*innen sind Lindgrens sieben Enkel und ihre Tochter Karin:

Nachdem sich die Company in den ersten Jahren vor allem damit beschäftigte, mit wem die Autorin welche Verträge geschlossen hatte und welche Rechte wem eingeräumt worden waren, marschiert man inzwischen mit eigenen Projekten und wachsendem Erfolg voran: ALC unterstützt Musicals, Theaterproduktionen und lädt zu Veranstaltungen über die Kinderbuchautorin. (S. 31) 

Auch den Umgang mit den Merchandise-Produkten zum Lindgren'schen Kosmos untersucht Hörnlein beginnend mit Astrid Lindgrens eigenem Verhältnis zu Medien und Produkten, die zu ihren Büchern entstanden. Dabei freut beim Lesen besonders, dass man Lindgrens Familie, ihre Tochter Karin und die Enkel auch kennenlernt und erfährt, wie die Familie zusammenarbeitet und zusammenhält. 

Ähnlich wie das Ehepaar Schwieder in ihrem Reiseführer Astrid Lindgrens Schweden – von Bullerbü zur Villa Kunterbunt (2023) besucht Hörnlein die wichtigsten Stationen in Lindgrens Leben. Sie versteht es, diese Spaziergänge sehr plastisch wiederzugeben, sodass man ihr wie mit einer Kamera folgen kann. Die bekannten Kapitel zur Kindheit, Jugend und zu ersten Bucherfolgen Lindgrens hat Hörnlein auf angenehm frische Art verfasst und so, dass auch Lindgren-Expert*innen neue Dinge erfahren, beispielsweise wo Lindgrens Lieblingsbäckerei war, dass ihr Ehemann sein Leben lang als Direktor des Automobilfahrerverbandes keinen Führerschein besaß, dass Lindgren als junges Mädchen ein paar Monate lang eine Kunstschule in Stockholm besuchte und – besonders eindrucksvoll – wie eine Ballonfahrt das Bilderbuch Im Land der Dämmerung (1995) inspirierte.

Besonders interessant ist der Artikel über die Dokumente, die heute in der Königlichen Bibliothek in Stockholm lagern: Das Astrid-Lindgren-Archiv füllt 160 Regalmeter und wurde zehn Jahre lang von Lena Törnqvist sortiert. Ein Geheimnis stellen die 650 DIN-A5-Notizblöcke dar, "auf denen Lindgren in Kurzschrift ihre Geschichten verfasste und an ihnen feilte" (S. 143). Diese zu entziffern, haben sich die Enkel zur Aufgabe gemacht und die Literaturwissenschaftlerin Malin Nauwerck mit diesem Projekt beauftragt. So gelingt es vielleicht, veränderte Textpassagen oder unveröffentlichte Fragmente der berühmten Bücher zu finden. 

Fazit

Katrin Hörnleins Buch über Astrid Lindgren ist keine neue Lindgren-Biografie, sondern eine Art Spurensuche, wie die Autorin selbst im Vorwort unterstreicht: Ein Mosaik aus Erinnerungen ihrer Familie, Freunde und Arbeitskolleg*innen und aus Entwicklungen im Umgang mit Lindgrens Werk, die seit ihrem Tod 2002 stattgefunden haben. Hörnleins Erinnerungen an Astrid Lindgren bieten sowohl Neulingen auf dem Gebiet als auch Lindgren-Spezialist*innen interessante Rundgänge zum heutigen Stand der Arbeit mit dem Nachlass, Lindgrens geistigem Erbe und den Museen zu ihrem Werk. 

Man gewinnt einen Einblick in die vielen Gebiete, die mit dem Vermächtnis der schwedischen Autorin zu tun haben, und verfällt rasch dem leichtfüßigen Schreibstil, der uns über viele Details zu den großen Wahrheiten um Astrid Lindgren führt. Es ist allemal ein Gewinn für die Literatur über die große schwedische Schriftstellerin, die bis heute fasziniert.

Literaturverzeichnis

Bohlund, Kjell: Die unbekannte Astrid Lindgren. Ihre Zeit als Verlegerin. Hamburg: Oetinger, 2021.

Lindgren, Astrid und Schwardt, Sara: Deine Briefe lege ich unter die Matratze. Ein Briefwechsel 1971 – 2002. Hamburg: Oetinger, 2015.

Lindgren, Astrid und Hartung, Louise: Ich habe auch gelebt! Briefe einer Freundschaft. Berlin: Ullstein, 2016.

Lindgren, Astrid: Die Menschheit hat den Verstand verloren. Tagebücher 1939 – 1945. Berlin: Ullstein, 2016.

Titel: Eine wie sie fehlt in dieser Zeit. Erinnerungen an Astrid Lindgren
Autor/-in:
  • Name: Katrin Hörnlein
Erscheinungsort: Hamburg
Erscheinungsjahr: 2023
Verlag: Friedrich Oetinger
ISBN-13: 978-3-7512-0214-5
Seitenzahl: 272 Seiten
Preis: 22,00€
Buchcover, das ein Portrait Astrid Lindgrens abbildet mit Titel