Inhalt

Die Publikation geht aus der Online-Tagung „Frühkindliches Spiel und literarische Rezeption – interdisziplinäre Perspektiven auf (immersive) Medien zur literarischen Sozialisation von Kindern“ hervor, die am 2. März 2023 stattfand und vom Bilderbuchzentrum der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd organisiert wurde. Das Ziel des Tagungsbands ist die Vernetzung der jeweiligen „Betrachtung des frühen Erwerbs literarischer Kompetenzen“ mit der des „kindlichen Spiels“ sowie die Formulierung sich daraus ableitender Perspektiven „für den Zusammenhang von Spielen und literarischen Erfahrungen“ (S. 7). Grundlegend für die Beiträge sind zum einen die Spiel-Definition des Erziehungswissenschaftlers Bernhard Hauser (2016) und zum anderen die These Nora Zügels, laut der Fiktionskompetenz über Literaturrezeption und Spiel erworben werden könne, wobei der Zugang über das (Rollen)Spiel niedrigschwelliger als der über Literatur sei (Zügel 2022, S. 20ff.). Die gemeinsame Klammer der Beiträge ist folglich das (Un)Bewusstsein für Fiktion bzw. die Nähe der literarästhetischen Rezeption zum Spiel im Zeitraum der frühen Kindheit. Im Anschluss an eine Einleitung folgen neun Beiträge, die in drei Kapitel gegliedert sind.

Das Kapitel „A Spiel und Literatur interdisziplinär perspektiviert“ kartografiert das Feld zwischen Spiel, Literatur und Kindheitspädagogik durch sehr unterschiedlich ausgerichtete und sich ergänzende Perspektiven. In seinem einführenden Aufsatz erarbeitet Sebastian Bernhardt grundlegende Beziehungen zwischen Literatur und Spiel sowie davon ausgehend Potenziale und Herausforderungen, die mit der Förderung literarästhetischen Lernens im Zeichen spielähnlicher Literaturrezeption einhergehen. Im Anschluss an die Spieldefinition von Hauser schlägt Bernhardt vier Dimensionen der Spiel-Literatur-Beziehung vor (Spiele in Literatur, Praxis des literarischen Spiels, geschichtenerzählende Literatur als Spiel und Rezeption narrativer Literatur als spielähnliche Tätigkeit, S. 21-24) und beschreibt anhand narrativer und lyrischer Texte Potenziale und Herausforderungen für eine Literaturdidaktik, die das Spiel als Ressource zur Förderung literarästhetischen Lernens nutzt. Im nachfolgenden Interview mit Hauser gehen die Herausgeber*innen u.a. Fragen zur Bedeutung des kindlichen Spiels für die Entwicklung von Kindern, ihrer Fähigkeit, zwischen Wirklichkeit und Fiktion zu unterscheiden, der Rolle von Erwachsenen zur Förderung des kindlichen Spiels sowie der Bedeutung von Immersion nach. Dorothea Hüsson widmet sich in ihrem Aufsatz der Verbindung von kindlichem Spiel und Literatur: Dabei werden grundlegend die Funktionen des Spiels für kindliche Entwicklung aufgefächert, Methoden des Spiels untergliedert sowie Handlungsanleitungen für die ko-konstruktive Begleitung des kindlichen Spiels durch Fachkräfte gegeben. Jan-Niklas Meier und Ulrike Preußer erläutern in ihrem Beitrag das besondere literaturdidaktische Potential des Pen-and-Paper-Rollenspiels: Dies liegt im Gegensatz zu konventionellen, i.d.R. körperlich ganzheitlich aufgeführten Rollenspielen darin, dass „Rezeption und narrative Produktion aufgrund“ der dem Pen-and-Paper-Rollenspiel eigenen „spezifischen Kommunikationssituation deutlich enger zusammentreten“ und ein „make-believe from the inside“ ermöglichen (S. 80).

Die Beiträge des Kapitels „B Vom Gegenstand zum Spiel – immersive Medien für Kinder“ verfolgen anhand ludisch-narrativer Gegenstände wie Bilderbuch-App, Bilderbuch und Such-Bilderbuch die Frage, welche Rolle ästhetische Erfahrung und insbesondere das Phänomen der Immersion für die Rezeption der visuellen Medien und für literarästhetisches Lernen spielen. Eva-Maria Dichtls theoretisch-gegenstandsorientierter Beitrag untersucht die drei Bilderbücher Schlaf, Kater, schlaf! (2017), Ein Entlein kann so nützlich sein (2013) und Räuberkinder (2008) textimmanent daraufhin, inwiefern sie die Involvierung der Rezipient*innen oder ihr Bewusstsein für die Gemachtheit der Bücher fördern. Die Autorin zieht Schlüsse dahingehend, inwiefern die Rezeption der Bilderbücher spielähnlich sei, welche Art von spielerischem Umgang damit möglich wird oder welche konkreten spielerischen Anschlusskommunikationen sich anbieten. Lisa Ingermann und Andrea Struck analysieren in ihrer theoretisch-gegenstandsorientierten Untersuchung den Band Pierre, der Irrgartendetektiv jagt Mr. X (2017) aus der Suchbilderbuch-Serie Pierre, der Irrgartendetektiv (2015-2021). Die Analyse legt nahe, dass die Rezipient*innen dergestalt mittels Bild und Schrift durch die Narration gelotst werden, dass sie permanent zwischen der Wahrnehmung der Gestaltung und dem Eintauchen in die Diegese schwanken. Dies sei nicht nur notwendig für die Rezeption, sondern mache auch den Genuss des Suchbilderbuchs aus. Die empirische Studie von Juliane Dube, Gerrit Helm und Verena Ronge widmet sich der Rezeption der Bilderbuch-App Die große Wörterfabrik (2013) durch Viertklässler*innen. Die Autor*innen stellen fest, „dass alle Ebenen der polymodalen Gestaltung des Textes ästhetische Erfahrungsprozesse hervorgerufen haben, ohne Verstehensprozesse zu verhindern“ (S. 177). Zugleich wird deutlich, dass „die Polymedialität von Bilderbuch-Apps durch die dominante Gestaltung narrationsbegleitender, interaktiv-partizipativer Spielelemente Ressourcen des Arbeitsgedächtnisses so stark in Anspruch nehmen kann, dass Wahrnehmungs- und Verstehensprozesse verhindert werden“ (ebd.). 

Das Kapitel „C Metafiktionalität und Spielpotenzial“ beinhaltet zwei Untersuchungen zur Wahrnehmung von Metafiktion anhand von Bilderbüchern. Wolfgang Bay, Hannah Berner, Friedemann Holder und Maribel Meier werten Gespräche von Drittklässler*innen zum metaleptischen Bilderbuch Hier kommt keiner durch! (2016) aus. Dabei zeigt sich, dass die Mehrheit der acht Schüler*innen kein Bewusstsein für metaleptisches Erzählen zeigt. Einen Erklärungsansatz dafür finden die Autor*innen darin, dass das Regelset des kindlichen Spiels dynamisch sei: Vor diesem Hintergrund stelle der Wechsel zwischen Fiktion und Realität keinen Regelbruch dar. Anna Ulrike Frankens Untersuchung darüber, wie Kinder im Alter zwischen 5 und 7 Jahren mit metafiktionalen Bilderbüchern umgehen, zeigt u.a., dass diese Mehrdeutigkeit und Irritation aushalten und genießen können und zudem ein Bewusstsein für Autorschaft entwickeln. Ausgangspunkt der Studie sind Vorlesegespräche mit sechs Kindern zu den Bilderbüchern Chester (2011), Eine perfekt verhunzte Geschichte (2017) und Hier kommt keiner durch! (2016). 

Kritik

Die einzelnen Beiträge lösen das selbst gesetzte Ziel des Bandes, literaturdidaktische und kindheitspädagogische Perspektiven auf Spiel und literarische Rezeption zu formulieren und sich damit einer Lücke im Diskurs um Spiel, Literatur und Bildung zu widmen, klar ein. Vor allem im Hinblick auf Genres des Bilderbuchs liefert der Band wertvolle Einblicke in „protospielerische“ (vgl. Interview mit Hauser, S. 42) literarästhetische Rezeptionsweisen sowie Hinweise zur Förderung ästhetischer Erfahrung und die Bewusstheit für die mediale Gemachtheit von Fiktion und Metafiktion im frühkindlichen Bereich. Diese sind aber auch anschlussfähig für die Erforschung anderer medienspezifischer Rezeptionen (z. B. von Schriftliteratur, Filmen und Videospielen) sowie für literaturdidaktische Vermittlungsprozesse in höheren Klassenstufen. 

Zugleich knüpft der Sammelband an frühere Überlegungen aus der spielorientierten Literaturdidaktik an: Heinrich Kaulen forderte 2009 in seinem Aufsatz Spielmethoden ohne Spieltheorie? u.a. eine Schärfung des Spielbegriffs, eine interdisziplinäre Ausrichtung der Literaturdidaktik an den Kulturwissenschaften und den Nachweis, dass „[s]pielerische Verfahren im Literaturunterricht“ ihren Mehrwert gegenüber analytisch-kognitiven beweisen müssten (Kaulen 2009, S. 596). Teil A des Tagungsbandes bietet eine solche terminologische Übersichtlichkeit zum Spielbegriff sowie zu den Schnittstellen von Spiel und Literatur (vgl. Beiträge von Bernhardt und Hüsson). Über die Beiträge hinweg wird der Mehrwert interdisziplinären Wissenstransfers zwischen Literaturdidaktik und Erziehungswissenschaften sowie der Kindheitspädagogik, aber auch zwischen Literaturdidaktik sowie Kognitionspsychologie und Phänomenologie deutlich. Die Einzelbeiträge versuchen nicht, auf einer methodischen Ebene handlungs- und produktionsorientierten Verfahren oder gamifizierter Literatur das Wort zu reden, sondern zeigen jeweils auf, inwiefern die Rezeption der jeweiligen Gegenstände an sich sowohl an die Motivation von Kindern für Spiele anknüpfen und zugleich literarästhetisches Lernen im Hinblick auf die Unterscheidung von Realität und Fiktion, subjektive Involviertheit und die genaue Wahrnehmung der medienspezifischen Konstruktion fördern kann. Insofern bieten sie eine Möglichkeit an, den im Band selbst problematisierten Gegensatz zwischen ‚freiem‘ außerschulischem und ‚gelenktem‘ funktionalisiertem Spiel in Kindergarten und Schule (vgl. Interview mit Hauser) zu entgehen. 

Eine Lücke im einführenden Kapitel wird jedoch angesichts der vielen Beiträge offenbar, die sich mit dem Wechsel zwischen Fiktion und Realität in der literarästhetischen Rezeption, mit Metafiktionalität oder mit ästhetischer Erfahrung auseinandersetzen: Diese Beiträge zielen auf das Phänomen ästhetischer Illusion (vgl. Wolf 2017) sowie dessen extremen Ausprägungen der Immersion und Distanz ab und leisten wichtige Erkenntnisse zum Verständnis des ‚Eintauchens‘ von Kindern in fiktive Welten und zugleich ihrer (Un)Bewusstheit für die mediale Gemachtheit selbiger (vgl. vor allem Ingermann/Struck, Dube et al., Bay et al. und Franken im rezensierten Tagungsband). Angesichts der Relevanz des Begriffs der ‚Immersion‘ für diese Studien, seiner Konjunktur in Medienwissenschaft und -pädagogik sowie für die Literatur- und Mediendidaktik relevante Fragen zu Zusammenhängen von Immersion und (Nicht-)Verstehen oder bisweilen bewahrpädagogischem Vorbehalten ist es bedauerlich, dass diesem Phänomen explizit nur wenig Raum im grundlegenden Auftaktkapitel gegeben wird.

Fazit

Der Tagungsband ist für Forschende, die an der Schnittstelle zwischen literarästhetischem Lernen, frühkindlichem Spiel und Bilderbuch tätig sind, sehr zu empfehlen. Er bietet mit seinen theoretisch und empirisch ausgerichteten Beiträgen aber auch Erkenntnisgewinne und Ausgangspunkte für diejenigen, deren Forschung sich der protoludischen Literatur- bzw. protoliterarischen Spielrezeption höherer Altersstufen, auch im Hinblick auf rein schriftliche oder Bewegtbild- und Hörmedien, widmet.

Literatur

ide. Informationen zur Deutschdidaktik 44 (2020) H. 2. [Titel: „Videospiele“]

Hauser, Bernhard: Spielen. Frühes Lernen in Familie, Krippe und Kindergarten. 2. Auflage. Stuttgart: Kolhammer, 2016.

Kaulen, Heinrich: Spielmethoden ohne Spieltheorie? Zur Geschichte und aktuellen Konjunktur des Spielbegriffs in der Literaturdidaktik. In: Literatur als Spiel: Evolutionsbiologische, ästhetische und pädagogische Konzepte. Hrsg. von Thomas Anz und Heinrich Kaulen. Berlin/Boston: De Gruyter, 2009, S. 579-599.

Praxis Deutsch 48 (2021) H. 289. [Titel: „Spielend lernen“]

Standke, Jan: Spiele(n) in der Gegenwartskultur. Herausforderungen und Chancen für das literarische Lernen im Literaturunterricht. In: Medien und Praktiken des Spiel(en)s im literatur- und mediendidaktischen Kontext. Hrsg. von Jan Standke. Trier: WVT, 2022, S. 1-15.

Wolf, Werner: Ästhetische Illusion. In: Grundthemen der Literaturwissenschaft: Erzählen. Hrsg. von Martin Huber und Wolf Schmid. Berlin/Boston: De Gruyter 2017, S. 401-417.

Zügel, Nora: Spielend zu mehr Fiktionskompetenz. Wie sich die Verwandtschaft von Spiel und literarischer Fiktion im Deutschunterricht nutzen lässt. In: Medien und Praktiken des Spiel(en)s im literatur- und mediendidaktischen Kontext. Hrsg. von Jan Standke. Trier: WVT, 2022, S. 19-31.

Titel: Frühkindliches Spiel und literarische Rezeption. Perspektiven der Kindheitspädagogik und der Literaturdidaktik
Herausgeber:
  • Name: Sebastian Bernhardt
  • Name: Eva-Maria Dichtl
Erscheinungsort: Berlin
Erscheinungsjahr: 2023
Verlag: Frank & Timme
ISBN-13: 978-3-7329-0903-2
Seitenzahl: 256
Preis: 39,80€
Buchcover zu Sebastian Bernhardt und Eva-Maria Dichtls Sammelband Frühkindliches Spiel und literarische Rezeption. Vor einem türkisen Hintergrund sind die Buchdaten in weiß zu lesen, ein Bild zeigt ein Mädchen mit Umhang und Maske vor einer schlichten Wohnzimmerkulisse spielen, bunte Buchstaben scheinen um sie herumzufliegen