Inhalt

Wie Oliver Twist ist der kleine Kater Oliver eine Waise ohne Heimat. Er irrt allein durch das großstädtische New York der 1980er-Jahre, bis er auf den Streuner Dodger trifft. Dieser nimmt ihn auf und Oliver wird Teil seiner Straßenhund-Bande. Ebenso wie die Bande in der literarischen Vorlage sind die filmischen Vierbeiner Taschendiebe, die beim menschlichen Gauner Fagin leben. Nach einer Kette von unvorhergesehenen Ereignissen findet Oliver bei dem reichen Mädchen Jenny ein neues Zuhause, in dem er sich sehr wohlfühlt. Jedoch währt das Glück nicht lange, da die Hunde den Kater zu Fagin zurückbringen. Letztgenannter ist in großen Schwierigkeiten, da er nur noch wenig Zeit hat, um seine Geldschulden beim angsteinflößenden Zweibeiner Sykes zu begleichen. Es kommt soweit, dass Sykes die kleine Jenny entführt und Oliver und die Bande eine turbulente Rettungsaktion starten müssen. Am Ende schaffen sie es geradeso, Sykes zu besiegen und das Mädchen zu retten. Kater Oliver entscheidet sich, bei Jenny wohnen zu bleiben und findet bei ihr ein liebevolles Heim. 

Scribner OliverUndCo. abbAbb. 1: Fagin und seine Bande. Screenshot aus OLIVER & CO. (1988). Verleih: WALT DISNEY ANIMATION STUDIOS

Kritik

Oliver & Co. gehört zu den wenigen Disney-Zeichentrickfilmen, die zu ihrer Entstehungszeit spielen. Die meisten sind entweder in einer zeitlich unbestimmten und vergangenen "Es war einmal..."-Märchenwelt angesiedelt, beispielweise Cinderella (1950), oder in einer datierbaren historischen Zeit. So wird zum Beispiel in Dornröschen (1959) von Prinz Philip gesagt, dass er im 14. Jahrhundert lebt. Das 1980er-Jahre-Flair fällt in Oliver & Co. durch die Kleidung der Menschen und Optik der Großstadt New Yorks auf und wird durch den Popmusik-Soundtrack mit Gesangseinlagen unter anderem von Billy Joel und Bette Midler (in der deutschen Synchronisation Jürgen Drews und Katja Ebstein) noch verstärkt. Auf den ersten Blick ist der Film durch die poppigen Farben und schwungvolle Musik bunter und heiterer als andere filmische Oliver-Twist-Adaptionen, wie Roman Polańskis Oliver Twist (2005), die sich mehr an die literarische Vorlage halten, zu großen Teilen im Armenviertel des viktorianischen Londons spielen und dementsprechend düster ausfallen. Auf den zweiten Blick fällt allerdings auf, dass auch Oliver & Co. bedrückende und düstere Passagen hat, wie den Kampf um das Überleben des kleinen Katers Oliver zu Beginn – niemand nimmt Rücksicht auf ihn und überall lauern Gefahren: starke Gewitter, Autos und blutrünstige Hunde. Die Gefahren, denen der Kater Oliver ausgesetzt ist, sind zwar andere als jene, denen Oliver Twist sich in früheren Zeiten stellen musste, trotzdem bleiben sie existenziell und folglich bedrohlich.

Scribner OliverUndCo. abb2Abb. 2: Blutrünstige Hunde. Screenshot aus OLIVER & CO. (1988). Verleih: WALT DISNEY ANIMATION STUDIOS

In Oliver & Co. sind auffällig viele popkulturelle Referenzen eingebaut worden, sowohl auf andere Disneyfilme, wie auf Nicht-Disneyfilme. Tito, ein Mitglied der Straßenhund-Bande, erinnert mit seiner Macho-Attitüde und seinem Latino-Akzent (im amerikanischen Original) an Tony Montana aus Brian De Palmas Scarface (1983), jedoch in einer harmloseren und niedlicheren Variante, und er singt Lieder aus My Fair Lady (1964) und Schneewittchen und die sieben Zwerge (1937). Während Dodger "Why Should I Worry?" singt, haben eine paar Hunde aus anderen Disneyfilmen Cameo-Auftritte: Peggy, Pluto und Jock aus Susi und Strolch (1955) und Pongo aus 101 Dalmatiner (1961). Der erste Auftritt der kapriziösen, egozentrischen und eitlen Pudeldame Georgette, welche Jennys Familie gehört, erinnert an die Anfangssequenz in Cinderella. Beide Szenen zeigen eine Morgenroutine mit helfenden Vögelchen und von Cinderella und Georgette wird jeweils ein Lied gesungen. Die Lieder (Cinderella: "A Dream Is A Wish Your Heart Makes", Georgette: "Perfect Isn’t Easy") und Persönlichkeiten der Figuren könnten dabei allerdings nicht unterschiedlicher sein. In den Aristocats (1970) fährt Butler Edgar mit seinem Motorrad die Treppe einer U-Bahn-Station hinunter, dies tut auch Fagin in Oliver & Co. mit seinem Motorrad-ähnlichem Gefährt.

All diese Szenen und Figuren, die bei Kennern der zitierten Filme Déjà-vus auslösen können, sind einerseits spannend zu entdecken, vermindern andererseits aber auch die Originalität von Oliver & Co. Gleichzeitig sorgt gerade das Suchen und Finden von intertextuellen Referenzen in Kombination mit der Mehrfachadressierung an Jung und Alt auch für eine Vielfältigkeit  des Films. Bei Titos Tony-Montana-artigem Charakter könnte man zudem tatsächlich von einer Persiflage sprechen, diese wird aber von Kindern wohl eher nicht wahrgenommen, da davon auszugehen ist, dass diese Scarface noch nicht kennen. Eltern oder andere mitschauende Erwachsene dürfte dies hingegen Vergnügen bereiten, was den Anspruch von Family-Entertainment unterstreicht, der bei Disney oft betont wird. Kritikwürdig ist in diesem Zusammenhang, dass der Humor des Films an manchen Stellen über die Kinder hinweg funktioniert. Ein Beispiel dafür ist der erotisch-anzügliche Auftritt der Pudeldame Georgette, während sie "Perfect Isn't Easy" singt und von den Hunden der Nachbarschaft angeschmachtet wird. Oder wenn sie zu einem späteren Zeitpunkt anzüglich zu Tito sagt, sie wolle ihn "ganz privat" sprechen und dieser räuspernd zu seinen Freunden meint, sein "Baby" und er hätten "was zu besprechen".

Das vorrangige Gefühl, das sich bei Oliver durch die Filmhandlung zieht, ist Angst. Angst vor dem Ungewissen, aber auch Angst vor ganz konkreten Gefahren, die immer wieder auftauchen. Es ist naheliegend, dass diese Emotion auch beim zuschauenden Kind ausgelöst wird, weswegen humoristische Auflockerungen so wichtig wären und es umso problematischer ist, dass der Humor vielfach ein auf Erwachsene abzielender ist.

Scribner OliverUndCo. abb3Abb. 3: Oliver allein in New York. Screenshot aus OLIVER & CO. (1988). Verleih: WALT DISNEY ANIMATION STUDIOS

Vergleicht man das Figureninventar von Dickens Oliver Twist mit dem von Oliver & Co. fällt auf, dass manche Figuren direkt übernommen und (mehr oder weniger stark) abgeändert wurden, während andere neu sind. Oliver ist sowohl im Original als auch in der Adaption ein männliches, einsames und gutherziges Waisenkind auf der Suche nach einem Zuhause, einmal ein Mensch, einmal ein Kater, und in beiden Fällen der Protagonist. Eine mit Menschen bereits existierende Geschichte mit Tieren neu zu erzählen, ist keine Seltenheit bei Disney. So trifft dies unter anderem auf Robin Hood (1973) und Den König der Löwen (1994) sowie Den König der Löwen II – Simbas Königreich (1998) zu, wobei zweiterer lose inspiriert ist von Shakespeares Hamlet (1603) und letztgenannter von Romeo und Julia (1597). Ungewöhnlich ist bei Oliver & Co., dass manche Figuren Menschen geblieben sind und andere zu Tieren abgeändert wurden. Fagin und Sikes sind zwei Figuren, welche auch in der Adaption von menschlicher Gestalt geblieben sind, allerdings wurde Fagin als Charakter verändert. In Oliver & Co. ist er zwar ein Gauner, hat aber ein gutes Herz und kümmert sich liebevoll um seine vierbeinigen Bandenmitglieder. Im Buch hingegen ist die Figur deutlich zwiespältiger und im Grunde ein Bösewicht hinter einer vermeintlich anteilnehmenden Fassade. Sykes (mit neuer Schreibweise) bleibt in der Adaption der Bösewicht, mit dem Unterschied, dass er, anders als bei Dickens, der einzige Antagonist ist, der nicht im Laufe der Handlung die Seiten wechselt. Die neue Figur der Georgette ist hingegen eine anfängliche Antagonistin Olivers, die sich im Laufe des Films jedoch auf die Seite des Guten stellt. Weitere Bösewichte sind die beiden Dobermänner Sykes‘, die jedoch als seine Handlanger keine weitere Partei darstellen, sondern gewissermaßen eine vierbeinige Ausweitung von Sykes sind. Dodgers Rolle wurde weitestgehend übertragen und Jenny könnte von Rose Maylie inspiriert sein: die junge, freundliche Dame aus gutem Hause, die Oliver liebgewinnt und bei sich aufnimmt. Dass Jenny, anders als Rose, ein Kind ist, hängt sicherlich damit zusammen, dem kindlichen Publikum mehr Identifikationsmaterial zu bieten. Nancy ist eine im Roman sehr wichtige Figur, welche nicht direkt übertragen wurde, doch bestehen durchaus Parallelen zu Rita, welche die einzige Hündin der Straßenhund-Bande ist und zudem Oliver zu Beginn, ähnlich wie Nancy, unter ihre Fittiche nimmt. Hinzukommt, dass Sykes‘ Dobermänner versuchen, sie zu verführen und dazu zu bringen, sich ihnen anzuschließen, was beachtenswert ist, da Nancy im Roman Sikes‘ Geliebte ist. Insgesamt sind die Abänderungen der Figuren und die Reduzierung des Figureninventars in der Adaption eng damit verknüpft, dass auch die Handlung stark vereinfacht und für einen zeitgenössischen Kinderfilm adaptiert worden ist.

Oliver & Co. war nach längerer Zeit wieder der erste an den Kinokassen erfolgreiche Disney-Zeichentrickfilm, was bei dem Studio zu dem Vorhaben führte, jedes Jahr einen abendfüllenden Zeichentrickfilm auf die große Leinwand zu bringen1. Dieses Vorhaben wurde tatsächlich bis heute beinahe lückenlos in die Tat umgesetzt. 1988 machte Oliver & Co. einen weltweiten Umsatz von 53.279.055 $, zwei Jahre zuvor betrug der weltweite Ertrag von Basil, der große Mäusedetektiv mit 25.336.794 $ weniger als die Hälfte. Außerdem wurde für Oliver & Co. "zum ersten Mal eine komplette Produktionseinheit geschaffen, die sich mit computergenerierter Animation, wie sie dann auch im gesamten Film zu sehen ist, befasste"2. Die computergenerierte Animation wurde unter anderem für "cars, construction equipment, and the New York subway system"3 im Film angewendet. Oliver & Co. stellte mit dem Lied "Once upon a time in New York City" die erste musikalische Arbeit Howard Ashmans bei Disney dar. Ashman beeinflusste später maßgeblich die Phase der sogenannten "Disney-Renaissance" durch seine Mitwirkung am Soundtrack von Arielle, die Meerjungfrau (1989), Die Schöne und das Biest (1991) und Aladdin (1992). Oliver & Co. ist also in mehrerer Hinsicht ein Film der ersten Male. Woran liegt es also, dass er nicht den Bekanntheitsgrad von Das Dschungelbuch (1967) oder Der König der Löwen hat? Es könnte damit zusammenhängen, dass der Film sehr stark an seine Entstehungszeit gebunden ist, sodass ihm die zeitlose und universelle Komponente fehlt. Auch könnte der bereits erwähnte, teilweise unangemessene Humor ein weiterer Grund dafür sein, dass der Film mehr in Vergessenheit geraten ist. Dem hinzuzufügen ist, dass er stellenweise ins Hektische gerät: durch viel Action bleibt wenig Zeit, die Figuren tiefgehend kennenzulernen.

Fazit

Der spürbare Versuch, Family-Entertainment zu fabrizieren führt dazu, dass Oliver & Co. voller Referenzen für ein breitgefächertes Publikum ist, was jedoch auch den Vorwurf mangelnder Originalität zulässt. Zudem zielt der Humor des Films teilweise klar auf ein älteres Publikum ab, wobei die kindlichen Zuschauenden außen vor gelassen werden. Dennoch: Oliver & Co. bietet gute Unterhaltung, liebenswerte Charaktere und ist zudem auch als unkonventionelle Klassikeradaption eine Sichtung wert. Die von der FSK abweichende Freigabe ab 0 beim Streamingdienst Disney+ sei hier jedoch auf das Schärfste kritisiert. Angebracht wäre beim ersten Mal ein gemeinschaftliches Schauen in der Familie ab 6 Jahren. Noch jüngere Kinder dürften die nervenaufreibenden Actionszenen, der nicht-märchenhafte Charakter des Films und die vielfach düstere Stimmung überfordern.  


Fußnoten

Vgl. Manthey, Dirk; Altendorf, Jörg (Hg.): Die Filme von Walt Disney. Die Zauberwelt des Zeichentricks. Hamburg: Verlagsgruppe Milchstraße, 1993. S.85.

2 Smith, David; Clar, Steven: Disney – Die ersten 100 Jahre. Berlin: Egmont Ehapa, 2001. S.149.

3 Finch, Christopher: The Art of Walt Disney – from Mickey Mouse to the Magic Kingdoms. London: Virgin Books, 1995. S.284-286.

Titel: Oliver & Co.
Regie:
  • Name: George Scribner
Originalsprache: Englisch
Drehbuch:
  • Name: Jim Cox
  • Name: Tim Disney
  • Name: James Mangold
Erscheinungsjahr: 1988
Dauer (Minuten): 74
Altersempfehlung Redaktion: 6 Jahre
FSK: 6 Jahre
Format: Kino
Oliver & Co. (George Scribner, 1988)