Inhalt

Daboka und ihre kleine Schwester Loca gehören einem indigenen Volk des Amazonas-Regenwaldes an, das immer zur Vollmondzeit Verwandte am Ende des Waldes besucht. Als die Stammesmitglieder bunt bemalt und schön geschmückt zu dem gemeinsamen Fest wandern, nehmen sie plötzlich einen beißenden Geruch wahr, die Erde bebt und durch das dichte Grün führt eine breite Straße, auf der Menschen und Maschinen in dröhnendem Lärm arbeiten. Angsterfüllt ziehen sich die Indigenen ins Dickicht zurück und der Stammesälteste bricht auf, um mehr über die eindringenden Fremden und ihr Vorhaben in Erfahrung zu bringen.

Kurze Zeit später schreckt ein fürchterlicher Schrei Daboka auf und sie beobachtet, wie ihr Dorf überfallen wird. "Alles steht still. Nichts bewegt sich mehr. Nicht die Leute meines Stammes. Tot. Nicht die Leute mit den Waffen. Lebendig. Ich höre die Stille. Der Wald ist grausam stumm. Als wäre die ganze Natur erstarrt, fassungslos, betäubt von der Dummheit der Menschen." (S. 39) Damit beginnt für Daboka und Loca der Kampf um ihr Leben im Regenwald.

Kritik

Marion Achards Geschichte basiert auf einer wahren Begebenheit, von der die Französin durch einen Artikel der Ethnologin Anne Sibran erfuhr. [1] Diese berichtete von einer abgeschieden, halbnomadisch lebenden Gruppe der Taromenane im Oriente, die im März 2013 umgebracht wurde. Zwei kleine Schwestern überlebten, die – wie in der Erzählung – verschleppt und geimpft wurden und zunächst in der Obhut der Mörder aufwuchsen. Als Erinnerung an diese Tat entstanden, macht Achard mit ihrem 18 Kapitel umfassenden Buch Am Ende des Regenwaldes zugleich auf das Schicksal der Amazonasvölker aufmerksam. Diese sind in ihrer Lebensweise und Existenz nicht nur durch u. a. Missionare, Farmer, Holzfäller und Rohstoffförderer bedroht, sondern auch durch Umweltzerstörungen und Krankheiten, die genannte Akteure in den Regenwald tragen. Um ihr indigenes Selbstverständnis aufrechtzuerhalten, müssen die Familiengruppen ständig umherziehen und immer tiefer in den Wald fliehen.

Von diesen Fakten ausgehend, ahmt Achard im Roman die indigene Perspektive der Ich-Erzählerin Daboka nach, die in vielen Zügen an die idealisierte Figur des bon sauvage erinnert. So nimmt die nackt lebende Hauptfigur mit allen ihren Sinnen die Schönheit und Nützlichkeit des Regenwaldes wahr, die sie überwiegend im Präsens in klarer, einfacher Sprache sehr bildhaft poetisch beschreibt. Mit Liebe und Respekt spricht sie von der Gemeinschaft und den Traditionen ihres Stammes, dessen in Einklang mit der Natur geführtes Leben schlagartig zerstört wird, als Holzfäller beim Bau von Straßen für die Erdölförderung auf ihn aufmerksam werden. Angst, Unverständnis, Ratlosigkeit und Trauer liest Daboka in den Gesichtern ihrer Angehörigen, die durch den Ältesten erfahren, wie einst evangelikale Missionare mit Geschenken, Werkzeugen und ihrem Gott die Einheimischen für sich einnehmen wollten. Da erstere die Geister und das Wissen der Stämme nicht respektierten und Krankheiten über diese brachten, schwuren jene, nie wieder mit Fremden zu sprechen. Durch diese Erzählung sowie die Szene des Dorfüberfalls wird eine stereotypische Kontrastierung zwischen sanften, unverdorbenen Indigenen und Unheil bringenden Nichtindigenen betont, die im Mythos des 'edlen Wilden' mitschwingt. Die einfallenden Männer ähneln nicht nur in ihrer äußeren Beschreibung Konquistadoren (groß, kräftig, stark behaart, bekleidet), sondern auch in ihrem brutalen Auftreten gegenüber den Ureinwohnern. Dass sie diese nicht anerkennen, zeigt sich auch darin, dass sie Loca abwertend als animal und verdadera salvaje ('echte Wilde', S. 41) bezeichnen.

Im Gegensatz zu Loca, die bald Vertrauen zu den Fremden fasst, zeigt Daboka Widerstand, der sich auch in der Art manifestiert, wie sie jene bezeichnet: Während ihre Angehörigen Namen tragen, wird diese Individualität zumindest männlichen Nichtindigenen nicht zugeschrieben. Oft treten sie als Kollektivfigur ('die Männer') auf oder bleiben als einzelne Nebenfiguren namenlos. Diese unspezifische Benennung mag auch dem Fakt geschuldet sein, dass Daboka nichtindigene Männer als disruptive Figuren wahrnimmt und dadurch zu ihnen keine Nähe möglich ist. Dafür spricht ebenso, dass sie zwei weibliche Nichtindigene beim Namen nennt, die sich um sie und Loca kümmern. Trotz dieser Fürsorge, die stereotypisch mit Weiblichkeit assoziiert wird und männliche Brutalität kontrastiert, schwört Daboka, niemals das Leben der Menschen anzunehmen, die sie und ihre Schwester zu Waisen gemacht und verschleppt haben.

"Ich, ich heiße Daboka.
Ich bin ein Kind aus dem Bauch des großen Waldes.
Die Fremden werden nie in mein Herz sehen. Sie werden niemals wissen, was es stark macht.
Niemals werde ich die Sprache derer lernen, die töten!
Niemals werde ich zulassen, dass sie über mich bestimmen.
Denn ich vergesse nicht." (S. 62f.)

Obwohl sie noch sehr jung ist, weist ihr Achard nicht nur ein stark ausgeprägtes indigenes Selbstverständnis zu, auch des verübten Unrechtes scheint sich Daboka deutlich bewusst zu sein. Sie kann sich jedoch nicht mit Worten wehren und für ihr Recht einstehen, da weder sie noch ihre Schwester Spanisch beherrschen, das von den nichtindigenen Dorfbewohnern gesprochen wird und zur Betonung der Fremdheit im Roman unübersetzt kursiv gesetzt ist. So bleiben ihr zunächst nur kurze Gespräche mit Loca sowie das beobachtende Beschreiben des Dorfes und der kulturellen Differenzen, die ihr eigenartig (Fotografieren), überflüssig (Schuhe, Kleidung) oder unfassbar (Impfung, Helikopter) erscheinen. Durch Dabokas Sicht kristallisieren sich auch zwei entgegengesetzte Räume heraus, die die Kontrastierung der genannten Figurengruppen komplementiert: Während sie das dichte Grün des Regenwaldes als schützend, die Laute der Tiere als beruhigend empfindet, erscheinen ihr die Zivilisation symbolisierende pflanzenarme Dorfsiedlung als ungeschützt dem Sonnenlicht preisgegeben und das Treiben der Dorfbewohner als zu lärmig und belästigend. Durch ihren fremden Blick mag eine klischeehafte Entgegensetzung von Natur und Kultur betont werden, er macht jedoch ebenso deutlich, wie hektisch, laut, grob, brutal und unüberlegt der Umgang mit den Mädchen ist und wie wenig Respekt und Verständnis Indigenen, ihren Lebensweisen und -räumen entgegengebracht wird. Unterstützt wird diese Einschätzung durch eine sich an die Geschichte anschließende Danksagung der Autorin und einen kurzen Informationstext zu den Ureinwohnern Südamerikas.

Allein die Indigene Mayta erkennt, wie lebensnotwendig der Regenwald für die Schwestern ist und hilft ihnen, in diesen zurückzukehren, was den beiden realen Mädchen verwehrt geblieben ist. Doch nur auf den ersten Blick endet die kraftvolle Erzählung, die Anna Taube sehr gelungen aus dem Französischen übersetzt hat, hoffnungsvoll. Während sie mit Loca zuversichtlich den Wald betritt, tröstet Daboka die weinend zurückbleibende Mayta in Gedanken:

"Ich werde ihnen [den Verwandten] sagen, dass wir fliehen müssen. So weit weg, dass uns kein Fremder jemals finden kann. […]
Der Regenwald ist riesig. Sie schaffen es nicht, alles kaputt zu machen.
Sie wissen nur zu gut, dass sie, wenn sie das Leben bewahren wollen, den Geist des Waldes brauchen. […]
Sie wissen es und sie werden nicht alles zerstören.
Glaubst du denn, sie sind verrückt?" (S. 89)

Trotz eines sich formenden globalen ökologischen Bewusstseins zeigt sich in der außerfiktionalen Realität bis heute die Macht der Rohstoffindustrien, die beständig gierig nach immer neuen Förderstätten suchen, von denen viele im oder tief unter dem Amazonas-Regenwald liegen. Aufgrund dieser Bedrohungen stehen einige indigene Gruppen des Oriente, wie die isolierten Taromenane, nicht nur Nichtindigenen, sondern teilweise auch sesshaften indigenen Stämmen feindlich gegenüber, die sich mit der 'zivilisierten' Welt austauschen. [2]


Die den Roman schließende rhetorische Frage liest sich in dieser Hinsicht als tiefe Sorge um das Fortbestehen des Regenwaldes und seiner vielfältigen Bewohner. Bereits durch das Cover des schmalen Buches (unübliche Maße 11,2 x 24,9 cm) wird diese bildlich fassbar: Zu sehen ist ein mit Relieflack hervorgehobenes Laubblatt, dessen Hauptader eine große Asphaltstraße bildet, von der rote Nebenadern in leuchtendes Grün abgehen.

Fazit

Mit Am Ende des Regenwaldes liegt das erste in Deutschland veröffentlichte Buch Marion Achards vor. Zurecht war es 2018 für den Deutsch-Französischen Jugendliteraturpreis nominiert, wurde im März 2019 von der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur e. V. als Klima-Buchtipp empfohlen und erhielt im gleichen Jahr das KIMI-Siegel für Vielfalt. In schlichter sprachlicher Eleganz macht die Erzählung anhand einer wahren Begebenheit und durch die Stimme eines Mädchens eindringlich auf den Kampf indigener Völker aufmerksam, nach ihren Traditionen und Vorstellungen auf ihren Stammesgebieten leben zu können. Der Roman, den die ausgebildete Zirkusartistin Achard als Theaterstück Le peuple du chemin mit ihrer Compagnie Tour de Cirque aufführt [3], wird Leserinnen und Lesern ab 12 Jahren empfohlen, die bereits zu fassen vermögen, wie gravierend das Geschilderte ist.


Fußnoten
[1] Sibran, Anne: Les orphelines du peuple fantôme. In: XXI 28 (2014). S. 42–53.
[2] Rivas Toledo, Alex und Rommel Lara Ponce: Conservación y petróleo en la Amazonía ecuatoriana: un acercamiento al caso huaorani. Quito: EcoCiencia: Abya Yala, 2001. S. 71–78. https://digitalrepository.unm.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=1039&context=abya_yala (07.01.2021).
[3] Tour de Cirque: Le peuple du chemin. http://www.cirk.fr/LePeupleDuChemin.html (07.01.2021).

Titel: Am Ende des Regenwaldes
Autor/-in:
  • Name: Achard, Marion
Originalsprache: französisch
Originaltitel: Le peuple du chemin
Übersetzung:
  • Name: Taube, Anna
Erscheinungsort: Bamberg
Erscheinungsjahr: 2019
Verlag: Magellan
ISBN-13: 978-3-7348-5044-8
Seitenzahl: 96
Preis: 11,00 €
Altersempfehlung Redaktion: 12 Jahre
Achard, Marion: Am Ende des Regenwaldes