Inhalt

Erzählt wird der Text auf der primären Erzählebene von Caytlin, die aus einem Vorort von New York mit ihrer Mutter in eine unbedeutende Kleinstadt nach Vermont zieht. Hier besucht sie die Mitchell School, deren Abläufe sich in jeder Hinsicht von Caytlins bisheriger Schulerfahrung unterscheiden: Hier gibt es Ziegen, die die Kinder jeden Tag füttern müssen, ein Fach namens „Menschheitskunde“ und statt einer Turnhalle Traditionen wie den jährlichen Zucchinitag, bei dem mittels selbstgebauter Katapulte die überreifen Zucchinis, die die Bauern der Gegend nicht mehr verwerten können, über den Fußballplatz geschossen werden.

Die Handlung beginnt mit Caytlins erstem Schultag. Sie kommt in die Klasse der „Pioniere“ − der allerersten Kinder der Mitchell School. Auch wenn Caytlin augenscheinlich wenig gewillt ist, sich schnell in die neue Klasse zu integrieren, ist sie doch irritiert, als sich bei ihrer Ankunft niemand für sie zu interessieren scheint. Am ersten Schultag nach den Sommerferien gilt die ganze Aufmerksamkeit nämlich nur dem Fehlen des Schülers Paulie Fink. Niemand weiß, wo Paulie geblieben ist, aber alle Klassenkameraden wünschen sich ihn sofort zurück. 

Nach und nach erfährt Caytlin mehr über die Streiche und Flunkereien des Jungen: Paulie hat zum Beispiel behauptet, er sei ein Prinz aus der Republik Endrisistan und müsse im Exil leben, einmal hat er während des Unterrichts vorgegeben, ein ganzes Glas Mayonnaise auszulöffeln (das sich später als Vanillepudding herausstellte) und einmal kam er in einem Hühnerkostüm zur Schule. Auch für die Lehrer scheint Paulie eine Legende zu sein − ein anstrengender, aber aufgeweckter Schüler, an den sie sich gerne erinnern. 

Die Mystifikation Paulies wird noch gesteigert, als die Kinder eines Tages sein altes verschwitztes Sport-T-Shirt finden und aus diesem und einem Ast eine Art Vogelscheuche basteln. Umgehend wird diese Vogelscheuche zu einem Paulie-Totem und die Idee vom Wettbewerb „Mitchell sucht den neuen Paulie Fink“ wird geboren. Der Preis steht schnell fest: Der Gewinner soll Paulies Glücks-T-Shirt bekommen. Und natürlich muss es einen Juror und Challenges geben. Einhellig beschließen die Kinder, dass Caytlin als unparteiische Neue die Richtige für diesen Job ist.

Von nun an sammelt das Mädchen die unzähligen Legenden über Paulie Fink und transformiert diese in Aufgaben für den Wettbewerb: Wer schafft es, einen Tag lang wie eine Shakespeare-Figur zu sprechen? Wer kann sich im Büro der Direktorin verstecken, ohne dass diese es merkt? Nach jeder Challenge wählt Caytlin ein Kind, das den Wettbewerb verlassen muss. Jeder Verlierer „opfert“ dabei dem Paulie-Denkmal einen Gegenstand, das so zur Inkarnation der verschiedenen Erinnerungen an Paulie wird. 

Mit dem Wettbewerb beginnt eine Entwicklung Caytlins. Sie stellt sich immer mehr Fragen darüber, wer sie selbst ist, wer sie sein will, was sie von anderen weiß oder zu wissen glaubt – ja, letztlich darüber, wie Erinnerungen und Erzählungen funktionieren. Zudem integriert sie sich immer mehr in die Klasse, vor allen Dingen zu Gabby und Henry entwickelt sich ein freundschaftliches Verhältnis. Ihre alten Klassenkameraden vermisst Caytlin immer weniger und die Mitchell School wird mehr und mehr auch zu ihrer Schule. Umso schockierter ist sie, als sie eines Tages von der finanziellen Not der Stadt und der drohenden Schließung der Schule erfährt.

Als diese Nachricht die Runde macht, wird der Kampfgeist der Kinder geweckt. Das jährliche Fußballspiel gegen die Mannschaft der nahegelegenen Schule aus Delvenshire wird für die Klasse zum Sinnbild für den Kampf gegen die Schulschließung. Und dann hält der Tag des Matches eine Überraschung bereit…

Kritik

Die Suche nach Paulie Fink ist ein außergewöhnlicher Kinderroman, der vor allen Dingen durch seine Mischung aus komischen Szenen und nachdenklichen Passagen besticht. Besonders beeindruckt, wie Ali Benjamin in diesem Roman das Erzählen selbst unter die Lupe nimmt und zum Thema des Romans macht.

Dank (oder trotz) dieser durchaus anspruchsvollen Mischung garantiert Die Suche nach Paulie Fink Lesespaß. Dieser stellt sich mit Sicherheit auch ohne ein Verständnis aller metafiktionalen und gattungstheoretischen Implikationen ein, die Benjamin ihrem Text eingeschrieben hat, weil mit unheimlich viel Witz erzählt wird. Dabei beinhaltet das Buch sowohl Slapstick-Elemente als auch einen feinen Humor, der vor allen Dingen in der präzisen und liebevollen Zeichnung der skurrilen Figuren aufscheint. Jedes der Kinder an der Mitchell School ist so individuell wie das Schulkonzept (wodurch auch Fragen nach Erziehung und Pädagogik subtil mitgeführt werden: Was müssen Kinder eigentlich lernen? Was gehört auf den Lehrplan und worauf soll Schule letztlich vorbereiten?)

Dass es an der Mitchell School nur Originale, keine Durchschnittsmenschen gibt, macht Caytlin allerdings zunächst zu schaffen: 

Neben Diego dem Fußballtypen, Fiona dem Hosenanzugmädchen, Yumi mit den rosa Haaren, der netten Gabby und Besserwisser Henry lerne ich die Armeezwillinge als Timothy und Thomas kennen, und das Bommeltrio besteht aus Lydio (krause rote Haare), Willow (dünnes Yogamädchen) und Sam (mit dem Stoppelkopf).  (S. 41)

Caytlin urteilt also zunächst einmal über Äußerlichkeiten und sucht nach Schubladen für die Kinder der Klasse. Doch schnell merkt sie, dass bei ihren Mitschülerinnnen und Mitschülern dieses „Schubladendenken“ nicht funktioniert:

Aber nur weil ich jetzt ihre Namen kenne, weiß ich noch lange nicht, wo ich sie einsortieren soll.  […] Haben die denn keine Ahnung von sozialem Gefüge? (S. 41) 

Hier werden also zentrale Fragen nach unserer menschlichen Identität aufgeworfen: Wie machen wir uns ein Bild von unseren Mitmenschen? Wie hängt dieses Bild von der Person mit der wirklichen Person zusammen? Ja: Wer sind wir und wer wollen wir sein?

Dieses Generationen übergreifende Thema verpackt Ali Benjamin gekonnt in immer neuen Metaphern: Da ist Yumi, die aus einer Puppenspielerfamilie stammt, die mit Marionetten Shakespeare-Stücke inszeniert; da sind Sam, Lydia und Willow, die fortwährend „Kreaturen der Düsterwelt“ spielen, ein Rollenspiel, in dem jeder aussucht, „wer er sein will“ (S. 65), und im Sportunterricht gibt es das Programm Tanzparty, wenn auf Zuruf alle so tanzen wie ein ausgerufenes Kind: „Wenn dein Name aufgerufen wird, tanzen alle so wie du. Und du darfst dann als Nächstes aussuchen. Kapiert? Keine Sorge, du hast bestimmt auch bald deinen eigenen Move.“ (S. 43) 

Wenn so eine Metapher die nächste jagt, wirkt die Erzählung davon dennoch nie überfrachtet. Vielmehr fasziniert die unendliche Doppelung des Themas und steigert die Chancen darauf, dass, wenn eben nicht jeder junge Leser die Vielschichtigkeit der Erzählung in allen Details zu erfassen vermag, wohl jeder an der einen oder anderen Stelle Erfahrungen mit der Parabolik von Literatur machen kann. 

Faszinierend ist zudem, wie Benjamin dieses Thema immer wieder durch Rückgriffe auf die Antike ausstellt. Der Leser bzw. die Leserin wird wie die Pioniere mit dem Fach „Menschheitskunde“ konfrontiert und sammelt dadurch nicht nur Wissen über Platon oder Herodot, sondern wird spielerisch an philosophische Fragen herangeführt, die sich für gegenwärtige Diskurse immer noch als aktuell und zeitgemäß erweisen. Zentral ist hier das Höhlengleichnis, das Schulleiterin Mrs. Gilba den Kindern erzählt. Auch bei Caytlin setzt diese Erzählung Fragen in Gang, ja ihre Situation wird zum Spiegel bzw. Zerrbild des Höhlengleichnisses: Ist die Mitchell School wirklich der schräge Kosmos, in den sie aus der Welt der „richtigen Regeln“ gewechselt ist? Oder ist es andersherum? So wird die metaphorische Frage danach, was Schatten und was Wirklichkeit ist, in Caytlins Situation für jeden Leser greifbar. Und natürlich wird damit die Frage angerissen, woher wir eigentlich wissen, was wirklich ist und was nicht, welchen Erzählungen wir Glauben schenken.

Der Reiz von Die Suche nach Paulie Fink besteht also vorrangig darin, dass der Roman sowohl eine Geschichte über Freundschaft, Schule und das Heranwachsen ist, und es sich gleichzeitig um ein Buch über das Erzählen handelt, worauf Ali Benjamin auch im Nachwort hinweist. Die über den gesamten Text verstreuten Anekdoten über Paulie Fink, teilweise mehrfach aus verschiedenen Perspektiven wiedergebeben, stellen den Prozess der Legendenbildung aus und weisen darauf hin, dass erinnerte Geschichte eben immer auch perspektiviert und unvollständig, wenn nicht fiktiv ist. So lässt Benjamin die Menschheitskundelehrerin im Gespräch mit Caitlyn erklären: „,Wenn man eine Geschichte erzählt‘, sagt Mags, ,dann trifft man Entscheidungen. Man betont gewisse Teile, andere lässt man weg. Ansonsten wäre es nämlich keine Geschichte, sondern bloß eine Ansammlung von Fakten.‘“ (S. 240) Daher ist es konsequent, dass Ali Benjamin in Die Suche nach Paulie Fink selbst keine einsträngige, chronologische Handlung aus der Monoperspektive erzählt. Stattdessen montiert sie Interviews, Fetzen aus SMS oder Briefe in die Erzählung hinein. Das ist sehr stimmig und effektvoll, aber für die Lesenden auch herausfordernd. 

Allerdings sorgen gerade diese Perspektivwechsel, Zitate und Montagen dafür, dass die Leserinnen und Leser schon beizeiten erfahren, dass es noch irgendein Geheimnis geben muss, auf das die Geschichte zuläuft. Im Protokoll des Interviews mit Henry über den ersten Schultag ist zu lesen: „Ich hatte nämlich ein Geheimnis – eins, das uns alle betraf. […] Und ich war der Einzige, der es wusste.“ (62) Man erfährt hier nicht, worum es sich handelt, und damit erzeugt der Roman frühzeitig Neugier und Leselust. Das ist sicherlich der gelungenste Aspekt des Buches: Der Roman bleibt nicht bei einem philosophischen Ansatz stehen, sondern besticht durch Komik und Spannung gleichermaßen. So will man als Leser nicht nur wissen, ob es einen neuen Paulie Fink geben wird oder wo der alte geblieben ist, sondern die drohende Schulschließung und das spannende Fußballduell am Ende des Buches machen ebenso neugierig.

Dass sich Die Suche nach Paulie Fink trotz der anspruchsvollen Erzählweise leicht lesen lässt, ist nicht zuletzt den beiden Übersetzerinnen Jessika Komina und Sandra Knuffinke zu verdanken. Wortwitze zu übersetzen bzw. zu erfinden ist sicherlich eine Königsdisziplin, die beide beherrschen:

Er trägt ein neongrünes T-Shirt […]. Darauf abgebildet ist ein Comicstrichmännchen, das in der Nase bohrt. BOHR, EY!, steht in großen Druckbuchstaben darunter. (S. 72)

Fazit

Die Suche nach Paulie Fink ist rundherum empfehlenswert. Gemeinsam mit Caytlin können sich Kinder ab 11 Jahren auf eine Entdeckungsreise nach sich selbst begeben, sich Fragen stellen über das (Zusammen)Leben, und dabei en passant Wissen sammeln über kulturhistorische Größen wie Shakespeare, Herodot oder Homer. Und wem das noch immer nach großer schwerer Lektüre klingt, dem sei noch einmal versichert, dass es Ali Benjamin beeindruckend gelungen ist, diese Themen leichtfüßig und unheimlich humorvoll zu inszenieren.

Titel: Die Suche nach Paulie Fink
Autor/-in:
  • Name: Frauke Janzen
Originalsprache: Englisch
Originaltitel: The next great Paulie Fink
Übersetzung:
  • Name: Jessika Komina
  • Name: Sandra Knuffinke
Erscheinungsort: München
Erscheinungsjahr: 2021
Verlag: Carl Hanser Verlag
ISBN-13: 978-3-446-26949-1
Seitenzahl: 352
Preis: 18,00 €
Altersempfehlung Redaktion: 12 Jahre
Benjamin, Ali: Die Suche nach Paulie Fink