Einmal im Monat stellt die Filmredaktion – bestehend aus Christian Albrecht, Frank Münschke und Philipp Schmerheim – drei Filme oder Serien vor, die ihnen im zurückliegenden Monat besonders gefallen haben – oder zumindest eine Auseinandersetzung angeregt haben. Das können Neuerscheinungen sein, aber auch Filmklassiker oder vergessene Serienperlen, die in den Untiefen der Streaming-Archive vor sich hin schlummern.


Nackt über Berlin

(arte/SWR, 2023, 1 Staffel à 6 Folgen. Regie: Axel Ranisch. Drehbuch: Axel Ranisch und Sönke Andresen. Vorlage: Nackt über Berlin von Axel Ranisch)

Trailer

Axel Ranischs Serie Nackt über Berlin verknüpft eine Jugend- und Coming-of-Age-Erzählung mit einem Krimiplot, es werden Dramenelemente mit schwarzem Humor verwebt, eine Buddy-Komödie mit einer Rache-Story. Und der Soundtrack besteht aus klassischer Musik, Tanz- und Performanceeinlagen inklusive. Das klingt ziemlich verrückt und sehr gewagt. Das Tolle ist aber: Dieser wilde Genre-Mix funktioniert ganz hervorragend. Und das liegt einerseits an Ranisch selbst, der als Regisseur ein weiteres Mal zeigt, dass er sich wenig für vorherrschende Konventionen interessiert und eigene bzw. vor allem eigenständige Bilder findet. Andererseits an der Zeichnung der beiden Hauptfiguren: Hier der melancholische, oftmals unbeholfene, aber gleichzeitig schlagfertige Jannik (grandios: Lorenzo Germeno), der am liebsten Tschaikowski hört – dem unglücklichsten aller großen Komponisten; dort der vitale und aufbrausende Tai (nicht minder grandios: Anh Khoa Tran). Ranisch hätte daraus eine klassische Außenseiter-Story inklusive pädagogischem Zeigefinger erzählen können, aber das macht er nicht. Sondern lässt seine beiden Figuren einfach los – und das sorgt für zauberhafte, skurrile, spannende und auch zärtliche Momente. Die Serie steht sowohl in der ARD- als auch in der ARTE-Mediathek und es gilt hier nur eines: Unbedingt anschauen.

(Frank Münschke)


The Zone of Interest

(2023, Regie und Drehbuch: Jonathan Glazer. Vorlage: The Zone of Interest von Martin Amis. FSK: 12)

Die ‚Zone of Interest‘ im gleichnamigen Film von Jonathan Glazer ist klar umgrenzt: Sie ist der Garten und das Haus des Kommandanten des Vernichtungslagers Auschwitz, Rudolf Höß (Christian Friedel), seiner Frau Hedwig (Sandra Hüller) und der fünf gemeinsamen Kinder. Hier spielt der Großteil des 106 minütigen Films. Es werden überwiegend Alltagsszenen der Familie gezeigt: der Ausflug an den Fluss, der Geburtstag des Familienvaters, das Kaffeetrinken der Offiziersfrauen, der Besuch der Mutter von Hedwig, spielende Kinder, das gemeinsame Angeln und Bootfahren - und immer wieder der „Paradiesgarten“, wie ihn Hedwig Höß nennt, ein mit Blumenbeeten und Pool inszenierter scheinbarer locus amoenus.

Dort, wo die 'Zone of Interest' von Hedwig Höß aufhört, beginnt eine andere: das – so die zynische SS-Bezeichnung – „Interessengebiet des KZ Auschwitz“, dessen Mauern an das Grundstück der Familie grenzen.

Aus der Wahrnehmung der Familie wird der Holocaust mehr oder weniger erfolgreich verdrängt. Von der Mutter Hedwigs, die einige Tage zu Besuch kommt, auf die Lagermauern angesprochen beschwichtigt die Tochter eilig, sie hätten bereits Wein gepflanzt, „damit das zuwächst, damit man das nicht mehr so sieht.“ Trotz aller Spaltungs- und Verdrängungsmechanismen der Protagonist*innen ist das Menschheitsverbrechen permanent anwesend: Die Einstellungen sind wiederholt so gewählt, dass die Wachtürme und Schornsteine des Lagers hinter der Mauer oder durch die Fenster des Hauses den Hintergrund bestimmen; gleichzeitig wird es sichtbar im beschlagnahmten Pelzmantel und dessen aufgerissenem Saum, in der Asche, mit der die Beete gedüngt werden, im Blut, dass das verängstigte polnische Hauspersonal von den Stiefeln wäscht, im verstörenden Spiel und Verhalten der Kinder. Vor allem aber wird es hörbar, denn das Grauen, das sich Tag und Nacht hinter den Mauern des Lagers ereignet, wird im Film in erster Linie durch die Soundscapes des Tondesigners Johnnie Burn nahbar. Schüsse, Schreie der Gefangenen, das Brüllen der SS, Hundegebell, Geräusche der Vernichtungsindustrie: nahezu ununterbrochen, mal lauter, mal leiser, aber nie zu ignorieren, begleitet dieser Geräuschteppich des Schreckens die scheinbar banalen Alltagsszenen. Eine der letzten Szenen des Films wagt den Sprung in die Gegenwart und zeigt Reinigungskräfte bei ihrer Arbeit in der heutigen Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau. Hier kondensiert die kognitive Dissonanz von Normalität und Grauen und verdeutlicht gleichzeitig die Herausforderungen, mit dem moralischen Gewicht solcher Ereignisse umzugehen.

Das alles erzählt Glazer ohne klassisch-lineare Dramaturgie, die Szenen wirken gereiht, eine Spannungskurve gibt es nicht. Stattdessen inszeniert Glazer seine Aufnahmen mit statischen Kameras und ohne künstliche Beleuchtung in kalten, blassen Farben; der Verzicht auf nahe und große Einstellungen lassen die Bilder wie dokumentarische Tableaus wirken – die Zuschauer*innen sollen aus der Distanz beobachten und reflektieren, einen Raum für Identifikation gibt es nicht.

Indem Glazer in der Tradition Claude Lanzmanns anerkennt, dass die Singularität des Holocaust nicht darstellbar ist, und stattdessen auf die Imagination der Zuschauer*innen setzt, wird der Film für die Zuschauer*innen voraussetzungsreich, die das dafür notwendige kulturelle Gedächtnis noch nicht ausgebildet haben. Denn fehlt der Zugriff auf medial tradierte Vorstellungen und Bilder oder sind diese noch nicht ausreichend entfaltet, drohen die Ton-Bilder ins Leere zu laufen.

The Zone of Interest ist also ein großartiger, beeindruckender und bedrückender Film, der einen neuen, radikalen und gleichzeitig sensiblen ästhetischen Umgang mit der Undarstellbarkeit des Holocaust gefunden hat, seine Wirkung aber wohl erst dann entfaltet, wenn die Zuschauer*innen die visuellen Leerstellen des Films angemessen ergänzen können.

(Christian Albrecht)


Orion and the Dark

(Netflix, 2024, Regie: Sean Charmatz, Drehbuch: Charlie Kaufman. Vorlage: Orion and the Dark von Emma Yarlett. FSK: 6)

Orion and the Dark (dt. Orion und das Dunkel) ist nicht nur eine für Kinder wie Jugendliche interessante Comedy-Fantasy über die Überwindung der eigenen Ängste und über die Macht des Erzählens. Die 93 Minuten kurze Netflix/DreamWorks-Produktion markiert auch den Ausflug von Charlie Kaufman in das Kinder- und Jugendfilmfach.

Kaufman ist eine Legende des US-amerikanischen Independent-Kinos, aus seiner Feder stammen die Drehbücher zu Filmperlen wie Being John Malkowich (R: Spike Jonze, 1999) oder Eternal Sunshine of the Spotless Mind (R: Michel Gondry, 2004). Mit Orion and the Dark hat er das gleichnamige Bilderbuch von Emma Yarlett adaptiert; das Drehbuch wurde vom Regie-Debütanten Sean Charmatz umgesetzt.

Orion and the Dark dreht sich um den gleichnamigen elfjährigen Jungen, der vor vielen Dingen Angst hat – vor allem aber vor der Dunkelheit, und das lässt er die Menschen in seinem Umfeld auch wissen. So verwundert es nicht, dass eines Nachts das Dunkel (the Dark) höchstpersönlich in seinem Kinderzimmer auftaucht und sich erst einmal ausführlich über die Orions Jammereien aufregt. Das Dunkel macht Orion einen ebenso verängstigenden wie verführerischen Vorschlag: Er nimmt den Jungen mit auf seine nächtlichen Reisen, um ihm zu zeigen, was es in der Nacht, in der Dunkelheit so alles an faszinierenden Dingen gibt. Auf der Reise lernt Orion auch Dunkels Kolleg*innen kennen, etwa Süße Träume, Schlaflosigkeit oder die Ruhe. Trotzdem fühlt Orion sich bei Light (Licht) am Geborgensten, woraufhin das Dunkel sich beleidigt zurückzieht und die Menschen nun bei immerwährendem Tageslicht leben müssen, mit allen Konsequenzen.

An dieser Stelle enthüllt der Film seine eigene Metaebene: Denn wir folgen hier nicht gleichsam in filmischer Echtzeit den Erlebnissen Orions. Seine Abenteuer mit Dunkel und seinen Kolleg*innen sind auf Ebene der Binnenhandlung angesiedelt, denn sie werden eigentlich viele Jahre später vom erwachsenen Orion seiner Tochter Hypathia erzählt, die ähnlich ängstlich ist wie ihr Vater. Hypathia findet das Ende der Geschichte aber gar nicht gut und klinkt sich kurzerhand in die Handlung ein, um diese nach ihren Vorstellungen umzuändern…

Kaufman wäre nicht Kaufman, wenn die Geschichte sich nicht noch weitere Ebenen ausdenken würde. So entpuppt sich Orion and the Dark letztlich als Meditation über das Geschichtenerzählen, deren Erzähl-Ebenen sich zunehmend überlagern und vermischen. Das mag manche Kinder im Grundschulalter überfordern, bietet aber sehr reizvolle Ansätze für Gespräche darüber, was es eigentlich bedeutet, Geschichten zu erzählen. Und es ist eine Meditation darüber, wie das Geschichtenerzählen auch dabei helfen kann, gemeinsam die eigenen Ängste und Sorgen zu meistern.

Die Fantasy-Comedy wurde von Netflix am 2. Februar 2024 ohne große Werbekampagne auf der Streaming-Plattform veröffentlicht - ein weiteres Beispiel für das zunehmend lieblose Content Dumping, das es teils dem Zufallsprinzip überlässt, ob plattformeigene Filme oder Serien einem großen Publikum bekannt werden. Umso schöner, dass sich so manche vergessene Perle nachträglich entdecken lässt (zumindest solange die Streaming-Dienste die betreffenden Filme oder Serien im Angebot behalten).

(Philipp Schmerheim)