Einmal im Monat stellt die Filmredaktion – bestehend aus Christian Albrecht, Frank Münschke und Philipp Schmerheim – drei Filme oder Serien vor, die ihnen im zurückliegenden Monat besonders gefallen haben – oder zumindest eine Auseinandersetzung angeregt haben. Das können Neuerscheinungen sein, aber auch Filmklassiker oder vergessene Serienperlen, die in den Untiefen der Streaming-Archive vor sich hin schlummern.


Leo da Vinci

(3D-computeranimierte Serie, 2019–2023, 104 Folgen (jeweils ca. 12 Minuten) in 2 Staffeln. Idee: Sergio und Francesco Manfio. RAI Ragazzi)

Es ist gar nicht so einfach, historische Kinderserien zu produzieren, die Wissensvermittlung und Unterhaltung halbwegs überzeugend kombinieren.

Die italienische 3D-animierte Serie Leo da Vinci wählt einen recht pfiffigen Ansatz: Nach einer Idee von Sergio und Francesco Manfio erzählt sie von den Abenteuern des fünfzehnjährigen Titelhelden im Florenz der 1470er Jahre. Sie schmückt damit die Jugend des legendären Universalgenies erzählerisch aus, erzählt ganz nebenbei von den Erfindungen und Kunstwerken da Vincis und vermittelt einen kindlich perspektivierten Einblick in das Leben in der Hochburg der Renaissance.

Leo kommt zu Beginn der Serie zusammen mit seinen Freund*innen (Mona) Lisa und Lollo nach Florenz. Während Lollo eine Anstellung als Koch findet und Lisa ihren Traum umsetzt, Pferdebetreuerin zu werden, beginnt Leo als Student in der Kunstakademie des berühmten Malers und Bildhauer Verocchio. 

Die Serie funktioniert auf zwei Ebenen, wie das so oft der Fall ist beim kindermedialen Erzählen: 

Zum einen generiert sie dramaturgische Spannung aus dem Grundkonflikt zwischen den Freunden und einer Gruppe von Piraten, die für einen mysteriösen Hintermann versuchen, der Stadt Florenz und ihrer Herrscherfamilie der Medici zu schaden. Mit Lorenzo de Medici und seinen Kindern freunden sich die drei Freunde natürlich schnell an – sodass das Publikum auch die einen oder anderen historischen Versatzstücke aus der Stadtgeschichte präsentiert bekommen. Entscheidend für die Bewältigung der einzelnen Abenteuer sind dabei die zunehmend genialen Erfindungen Leos wie Fluggeräte, Wasserboote, Prothesen oder mechanische Löwen. Die funktionieren zwar nicht immer so, wie sie sollen (was für comic relief sorgt), am Ende stellen sie sich aber oft als lebensrettend heraus. 

Zum anderen spielt die Serie mit der in den Figurenkonstellationen angelegten Beziehungsdynamik, aus der sie erstaunlich hohen Unterhaltungswert gewinnt. So ist Leo heimlich in Lisa verliebt; an der Kunstakademie versucht ein eifersüchtiger Vater, Leos Status in der Kunstakademie zugunsten des eigenen, untalentierten Sohns Vanni zu unterwandern, und die Piraten agieren untereinander ähnlich dysfunktional-lächerlich wie die bedauernswerten Piraten aus den Asterix-Bänden. 

Natürlich wiederholen sich die dramaturgischen Versatzstücke irgendwann, was sich bei mittlerweile 104 Folgen in zwei Staffeln auch nicht vermeiden lässt (wobei jede Folge nur gut 12 Minuten lang ist; ideales Fernsehfutter also für Kinder im Vorschul- und Grundschulalter). Aber die Schauplätze und Figuren sind liebevoll animiert, die erzählerischen Einfälle machen Spaß, und jede Folge ist so rasant erzählt, dass Leo da Vinci schlicht ein sehr vergnügliches Fernseh- bzw. Streamingerlebnis ist. Nicht nur für Kinder, sondern auch für ältere Semester mit einer gewissen Italienaffinität. Historische  Akkuratesse sollte man nicht erwarten, wenngleich gerade die architektonischen Rahmenbedingungen des Florenz des 15. Jahrhunderts erstaunlich gut getroffen sind.

Ein bisschen Trivia zum Abschluss: Als Keimzelle der Serie dient übrigens der von Sergio Manfio 2018 gedrehte 3D-Animationsfilm Leo Da Vinci: Mission Mona Lisa. An dem Film zeigt sich auch der unterschiedliche Blick von Erwachsenen und Kindern: Während die Expert*innen auf dem Filmportal KinderFilmWelt gut begründet nicht wirklich was mit dem Film anfangen können, sind die kindlichen Zuschauer*innen offenbar begeistert: https://www.kinderfilmwelt.de/filmpool/film/leo-davinci-mission-mona-lisa

Die Folgen sind in den Öffentlich-Rechtlichen Mediatheken verfügbar, z. B. hier: https://www.kika.de/leo-da-vinci/.

(Philipp Schmerheim)


Völlig Meschugge?!

(2022, 1 Staffel mit 6 Folgen. Regie: Frank Stoje. Nach einer Idee von Andreas Steinhöfel und Klaus Döring)

Die sechsteilige ZDF-Serie Völlig Meschugge?! unter der Regie von Frank Stoye (Erstausstrahlung 19.04.2022) erzählt die Geschichte dreier bester Freunde, deren Freundschaft auf eine harte Probe gestellt wird, als der zwölfjährige Hamid (Mika Ullritz), ein Sohn syrischer Geflüchteter, erfährt, dass sein Freund Benny (Louis Guillaume) Jude ist. Beeinflusst durch die antisemitischen Ressentiments seines Bruders stellt er die Beziehung zu Benny infrage. Als Hamid zudem zu Unrecht verdächtigt wird, Handys seiner Mitschüler*innen gestohlen zu haben, spitzt sich der Streit zu, denn Hamid beschuldigt Benny, ihm ein Smartphone untergeschoben zu haben. Es bleibt Charly (Nelly Hoffmann), deren Aufgabe es fortan ist, den wahren Handydieb zu enttarnen, sich gleichzeitig gegen das Mobbing durch die Gang um den Mitschüler Lennart (Caspar Hoffmann) zu wehren und den Bruch in der Freundschaft zwischen Benny und Hamid wieder zu kitten.

Völlig Meschugge?! erzählt eine Geschichte über Freundschaft und Zusammenhalt, aber auch über deutschen und islamischen Antisemitismus, über antimuslimischen Rassismus, über Vorurteile und Zivilcourage. Basierend auf dem Drehbuch u. a. von Andreas Steinhöfel gelingt es der Serie, die Überforderung und Hilflosigkeit der Erwachsenenwelt – hier verkörpert durch Eltern und Lehrer*innen – mit der immer offenkundiger zutage tretende Judenfeindlichkeit bzw. generell mit Ungleichheitskategorien im Alltag junger Menschen eindringlich ins Bild zu setzen und gleichzeitig ein kindgerechtes Bewusstsein dafür zu schaffen, wie vielschichtig die Beweggründe und Motive der einzelnen Figuren für das jeweilige Handeln mitunter sind. Dabei achtet sie sensibel darauf, ungewollte rassifizierende Stereotypisierungen ihrerseits zu vermeiden: So nimmt ein junger, aufgeklärter und versöhnlicher Imam die Gegenposition zu Hamids Bruder Raduan ein, dessen betont maskulin-adoleszentes und antisemitisches Verhalten wiederum auch durch dessen gescheiterte Integrationsbemühungen erklärt wird. Einblicke in das komplexe Gefühlsleben der Kinder erhalten die Zuschauer*innen nicht zuletzt dadurch, dass (fast) jede Folge mittels Voice-Over aus der Perspektive eines*r der Protagonist*innen eingeleitet wird. Völlig Meschugge?! wird so zu einem klaren, aber eben auch multiperspektivischen Statement gegen Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und Mobbing.

Auf visueller Ebene geht die Serie behutsam, aber zielgerichtet mit den kindlichen Blick irritierenden Kameraeinstellungen, -perspektiven, -bewegungen und Montagen um und bedient sich so der typischen, aber abwechslungsreichen und modernen Bildsprache des Kinderfernsehfilms.  Mit symbolträchtigen Aufnahmen von (Modell)-Eisenbahnen und Gleisen zitiert sie nicht nur die einschlägige Ikonographie des Holocaust-Films, sondern mit Stand by Me auch einen Klassiker des US-amerikanischen Jugendfilms.

Dass sich Völlig Meschugge?! vereinzelt in filmästhetischen Klischees verliert, kleinere handlungslogische Unplausibilitäten und stellenweise schauspielerische Defizite aufweist, fällt angesichts der Wichtigkeit ihrer Thematik in der heutigen Zeit und ihrer insgesamt ansprechenden filmischen Umsetzung nicht weiter ins Gewicht. Die Serie steht noch bis Ende Juli 2024 in der ZDFtivi-Mediathek zur Verfügung und kann durch die gleichnamige Graphic Novel von Andreas Steinhöfel und Melanie Garanin sowie durch die Mini-Serie Die Zweiflers, die ebenfalls gegenwärtiges jüdisches Leben in Deutschland zum Thema macht, stimmig ergänzt werden.

Die Folgen sind z.B. in der KiKA-Mediathek verfügbar: https://www.kika.de/voellig-meschugge/voellig-meschugge-100

(Christian Albrecht)


The Quiet Girl

(2022, Regie und Drehbuch: Colm Bairéad. FSK: 12)

The Quiet Girl (2022) erzählt die Geschichte der neunjährige Cáit (Catherine Clinch), die in einer dysfunktionalen irischen Arbeiterfamilie aufwächst und den Sommer 1981 ausnahmsweise bei ihrer Tante Eibhlín (Carrie Crowley) und deren Mann Seán (Andrew Bennett) verbringen darf. Die beiden leben auf einem abgelegenen Bauernhof und – das wird erst nach der Hälfte der Erzählzeit deutlich – haben ihren einzigen Sohn vor einiger Zeit verloren. Während Eibhlin Cáit direkt als Ersatzkind ansieht, ist Séan zuerst sehr distanziert. Der Film nimmt vor allem die Perspektive der verschlossenen Cáit ein, die sich ganz langsam auf ihre temporäre Ersatzfamilie einlässt, Zutrauen entwickelt, selbstbewusster wird. Dabei kommt der Film mit sehr wenig Sprache aus; stattdessen wird viel über Blicke, Bewegungen und Gesten der Figuren erzählt, einhergehend mit der Mise en Scéne.  Anfangs dominieren Bilder, die die Ängstlichkeit der Figuren – vor allem von Cáit und Seán – visualisieren, später wird die zunehmende Vertrautheit durch Bilder der Nähe dargestellt. 

Der Regisseur und Drehbuchautor Colm Bairéad erzählt diese Geschichte in langsamen und malerisch komponierten Bildern. Das mag zu Beginn irritieren, da die Inszenierung einen Kontrast zur sozialen Realität der Figuren darstellt, entpuppt sich allerdings als clevere Entscheidung: Dadurch werden die innere Wärme der Figuren und ihre Suche nach Geborgenheit greifbar – und die subjektiven Wahrnehmungen und Empfindungen verschmelzen dabei immer wieder mit der Darstellung der irischen Landschaft. The Quiet Girl stellt einen schönen Kontrast zu den plüschig-bunten Rummelpatz-Filmen für Kinder und über Kindheit dar. Wer sich auf diese Narration einlässt, wird mit tollen Bildern, unaufdringlich gezeichneten Figuren und einem Filmende belohnt, das die Zuschauenden voller Rührung zurücklässt.

(Frank Münschke)