Explikat

Während Künnemann/Müller die Gattung Bilderbuch noch primär über eine einfache illustrative Funktion des Bildes für den Text definieren, zeichnen sich vor allem die modernen Bilderbücher durch ein komplexes Wechselverhältnis von Bild und Text aus. Im Unterschied zu erzählenden Kinderbüchern besteht das Besondere der Buchgattung demnach in der Kombination von "two levels of communication, the visual and the verbal." (Nikolajeva/Scott 2006, S. 1) Dieses Merkmal teilt das Bilderbuch mit weiteren zeitgenössischen Bild-Text-Medien – wie dem Comic, der Graphic Novel oder der Bildergeschichte –, sodass sich eine präzise Abgrenzung hier als schwierig erweist. Zwar ist das Bilderbuch in Inhalt, Narration und Ästhetik eine noch immer vorrangig auf den kindlichen Adressaten ausgerichtete Gattung, es zeichnet sich jedoch eine zunehmende Entwicklung zu einer offenen und experimentellen Bild-Text-Form ab, die implizit den erwachsenen Leser anspricht und mitunter den Anspruch eines autonomen Kunstwerkes erhebt. So fordert Thiele beispielsweise, "die Arbeit des Illustrators der des freien Künstlers gleichzusetzen und den Prozeß des Illustrierens als autonomen ästhetischen Prozeß wahrzunehmen" (Thiele 2000, S. 38).

Mit dem die Gattung konstituierenden Spannungsverhältnis von Bild und Text verbindet das Bilderbuch zwei Zeichensysteme, mithin zwei "konventionell als distinkt" wahrgenommene Medien (Werner Wolf 2008, S. 327). Damit rückt das Bilderbuch in den Aufgabenbereich der Medienwissenschaften, die sowohl nach einem geeigneten Medienbegriff als auch nach der immanenten Intermedialität dieser Buchgattung zu fragen hätte. Hier schließen sich Fragen nach der Beziehung der beiden Zeichensysteme Bild und Text an, deren dialogische Bezugnahme im Bilderbuch unterschiedlichste Erzählformen ausbilden kann: Während sich in Anthony Brownes Stimmen im Park (1999) die Narration von Bild und Text parallel entwickelt, besticht Nikolaus Heidelbachs Prinz Alfred (2002) durch die kontrapunktische Spannung beider Zeichensysteme. Wolf Erlbruch treibt die Handlung in Frau Meier, die Amsel (1995) in Bild und Text als einem  "geflochtenen Zopf" voran (Thiele 2000, S. 74-76). In dieser Interaktion übernimmt das Bild eine erzählerische Funktion, sodass es sich bei dem Bilderbuch um eine primär narrative Gattung handelt (Thiele 2000, S. 36); im Dialog mit dem Text entfaltet das Bild sein narratives Potential in monoszenischen, auf einen Handlungsmoment fokussierenden, wie auch in pluriszenischen, simultan ablaufenden Szenen (bspw. Annalena McAfee/Anthony Browne: Mein Papi, nur meiner! oder: Besucher, die zum Bleiben kamen, 1984).

Die Beziehung von Bild und Text im Bilderbuch ist es auch, die vielfach als Ausgangspunkt von gattungstheoretischen Klassifikationsversuchen dient. Hervorzuheben sind an dieser Stelle Nikolajevas Überlegungen, die anhand des spezifischen Verhältnisses von Bild und Text den Versuch einer Typologie macht (Nikolajeva 2006, S. 12). Karl Ernst Maier hingegen unterteilt in Elementarbilderbuch, Szenenbilderbuch, Bilderbuchgeschichte und Sachbilderbuch und fächert die Bilderbuchgeschichte zusätzlich in Märchenbilderbuch, fantastische Bilderbuchgeschichte, wirklichkeitsnahe Bilderbuchgeschichten mit irrealen Elementen und realistische Bilderbuchgeschichte auf (Maier 1996).

Die an dieser Stelle nur angerissenen, noch vorsichtigen und heterogenen Ansätze einer Gattungstheorie spiegeln die generelle Positionierung des Bilderbuchs als Gegenstand des Wissenschaftsdiskurs wider: Das Bilderbuch ist zwar ein "bildästhetisch, literarisch, medial, pädagogisch, psychologisch und sozial vielschichtiger Gegenstand" (Thiele/Hohmeister 2007, S. 146) und dadurch in "zahlreichen Wissenschaftsdisziplinen vernetzt" (ebd.), letztendlich aber "in keiner klassischen Disziplin fest verortet"  (Thiele/Hohmeister 2007, S. 151). So sind zwar seit den 60er Jahren wissenschaftliche Ansätze einer Theorie des Bilderbuchs zu verzeichnen, diese blieben jedoch im Fragmentarischen verhaftet (Thiele 2000, S. 36f.); eine systematische und kohärente Theorie des Bilderbuchs ist damit bis heute ein dringendes Forschungsdesiderat.

Im Gegensatz zur Theorie des Bilderbuchs ist dessen (Ästhetik-) Geschichte Gegenstand ausführlicher wissenschaftlicher Darstellungen geworden (bspw. Oetken 2008; Künnemann/Müller 1975; Thiele 2000). Als historischer Ausgangspunkt des heutigen Bilderbuchs wird in der Forschung Johann Amos Comenius Orbis sensualium pictus (1658) angeführt, der dem Kind eine Zusammenschau der belebten und unbelebten Welt in illustrierter Form bieten soll. In dessen Folge wurden zahllose reich illustrierte Sach- und Elementarbücher für Kinder publiziert, wie z. B. Fr. J. Bertuchs in zwölf Bänden erschienenes Bilderbuch für Kinder (1792-1830) oder die Neue Bilder Gallerie für junge Söhne und Töchter zur angenehmen und nützlichen Selbstbeschäftigung aus dem Reiche der Natur, Kunst, Sitten und des gemeinen Lebens von Fr. K. Klang (1794-1802). Mit dem 19. Jahrhundert wendet sich das Bilderbuch aus der Spätromantik heraus der Illustration von Volksliedern, Kinderreimen, Gedichten sowie Märchen und epischen Stoffen zu. Vor allem die Arbeiten Ludwig Richters und Wilhelm Buschs sowie Hoffmanns Struwwelpeter sind aus dieser Zeit hervorzuheben (Künnemann/Müller 1975, S. 161).

Um die Jahrhundertwende nimmt vor allem der Jugendstil mit seiner Forderung der Ästhetisierung aller Lebensbereiche sowie die Reformpädagogik Einfluss auf den Kanon der Bilderbücher, die eine adressatengerechte Illustration propagiert. Heinrich Vogelers Dornröschen-Illustrationen zeigen prototypisch das Übertragen der Formensprache des Jugendstils in die Märchenbuchillustration und sind Ausdruck einer Subströmung in der Gattungshistorie, die sich in der Annäherungen von Bildender Kunst und Bilderbuch ausdrückt. Diese entstehe immer dann, wenn "sich die Kunst dem Alltag öffnete und sich als übergreifendes künstlerisches Prinzip zeigte." (Thiele 2000, S. 20) Die Bildende Kunst fungiert so wiederholt als bedeutender Innovationsimpuls des Bilderbuchs (Weinkauff/Glasenapp 2010, S. 171): Oskar Kokoschkas Die träumenden Knaben (1908) verdeutlicht beispielsweise mit seiner reduzierten und expressiven  Formensprache die künstlerisch befreiende Wirkung, welche die Stilkunst auf die Bilderbuchillustration ausübt; als Adressat einer sozial-politisch engagierten Kunst wird das Kind in El Lissitzkys Bilderbuch Suprematische Erzählung von zwei Quadraten (1922) explizit und Leo Lionnis Das kleine Blau und das kleine Gelb (Originaltitel: Little Blue and Little Yellow, 1959, dt. Übersetzung 1963) spiegelt in einer zeitlichen Retardation die Einflüsse des abstrakten Expressionismus und der Farbfeldmalerei (Thiele 2000; Oetken 2008, S. 66).

Das konventionelle, kanonisierte Bilderbuch ist zwischen dem Ersten Weltkrieg und der Machtergreifung der Nationalsozialisten durch eine Naturseligkeit geprägt, die einer kindgemäßen Auseinandersetzung mit der sich wandelnden Lebenswirklichkeit im Wege steht. Parallel dazu wenden sich sozialkritische Künstler dem Bilderbuch mit einer ideologischen Zielsetzung zu und sehen im Kind den Adressaten einer (politisch) engagierten Kunstform. Der Nationalsozialismus unterwirft das Bilderbuch – wie alle Formen künstlerischen Ausdrucks der Zeit – der nationalsozialistischen Weltanschauung, sodass die Naturseligkeit der 20er Jahre mit der 'Blut und Boden'-Ideologie verbunden wird. Während in der Nachkriegszeit die Bilderbuchkultur in Großbritannien, Skandinavien, den USA etc. aufblühte, wurde in Deutschland auf die Ergebnisse der Jahre vor 1933 zurückgegriffen und vor allem Neuauflagen publiziert (Thiele 2000, S. 23; Künnemann/Müller 1975, S. 168).

Das zeitgenössische Bilderbuch ist nun von einem Duktus geprägt, den Thiele mit dem Prozess einer "Entgrenzung"(Thiele 2000, S. 203) umschreibt. Demnach zeichne sich die Buchgattung seit den 80er Jahren durch  sich auflösende Genregrenzen  sowie experimentelle Gestaltungsformen aus (Weinkauff/Glasenapp 2010, S. 176). So sähen auch die Adressatenkonzeptionen nicht mehr eine spezifische Ausrichtung auf das Kind oder das Kind und den Erwachsenen vor, sondern eröffnen verschiede Lesarten und -ebenen, die nicht auf die Fähigkeiten einer spezifischen Altersklasse zugeschnitten sind (Weinkauff/Glasenapp 2010, S. 176). Erlbruchs Nachts (1999) ist hier ein prototypisches Beispiel des zeitgenössischen Bilderbuchs, das mit intertextuellen Bezügen zu den Klassikern der Kinder- und Jugendliteratur, unterschiedlichen Illustrationstechniken und Realitätsebenen spielt (Weinkauff/Glasenapp 2010, S. 182).


 Bibliografie

  • Künnemann, Horst und Helmut Müller: Bilderbuch. In: Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur. Personen-, Länder- und Sachartikel zu Geschichte und Gegenwart der Kinder- und Jugendliteratur. Bd. 1: A-H. Hrsg. von Klaus Doderer. Weinheim/Basel: Beltz, 1975. S.159-171.
  • Maier, Karl Ernst: Das Bilderbuch. In: Kinder- und Jugendliteratur. Ein Lexikon. Teil 5: Literarische Begriffe. Hrsg. Alfred Clemens Baumgärtner und Heinrich Pleticha. Meitingen: Corian, 1. Erg.-Lfg. März 1996. S. 1-20.
  • Nikolajeva, Maria und Carole Scott: How Picturebooks Work. New York: Garland, 2001.
  • New Directions in Picturebook Research. Hrsg. von Teresa Colomer, Bettina Kümmerling-Meibauer und Cecilia Silva Diaz. New York/London: Routledge, 2010.
  • Oetken, Mareile: Bilderbücher der 1990er Jahre: Kontinuität und Diskontinuität in Produktion und Rezeption. Oldenburg’sche Diss. 2008. http://oops.uni-oldenburg.de/volltexte/2008/783/.
  • Thiele, Jens: Bildbewegungen zwischen Kinder- und Erwachsenenkultur – exemplarisch untersucht am Bilderbuch Jo im roten Kleid. In: Zwischen didaktischem Auftrag und grenzüberschreitender Aufstörung? Zu aktuellen Entwicklungen in der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur. Hrsg. von Carsten Gansel und Paweł Zimniak. Heidelberg: Winter, 2011. S. 109-130 (= Beiträge zur neueren Literaturgeschichte; 293).
  • Thiele, Jens: Das Bilderbuch. Ästhetik, Theorie, Analyse, Didaktik, Rezeption. Oldenburg: Isensee, 2000; Thiele, Jens und Elisabeth Hohemister: Perspektiven der Bilderbuchforschung. Eine vorläufige Bilanz. In: Neue Impulse der Bilderbuchforschung. Hrsg. von Jens Thiele. Baltmannsweiler: Schneider, 2007. S. 146-152; Weinkauff, Gina und Gabriele v. Glasenapp: Kinder- und Jugendliteratur. Paderborn: Schöningh, 2010. S.162-182.
  • Wolf, Werner: Intermedilität. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. 4. Auflage. Hrsg. von Ansgar Nünning. Stuttgart: Metzler, 2008. S. 327-328.