Explikat

Die Wirkung von Filmen kommt nie alleine durch die Bewegtbilder ihres Mediums zustande, sondern durch das komplexe räumliche wie zeitliche Zusammenspiel der Bild- und Tonspur. (2) Während filmtheoretische Ansätze die Gestaltung und Wirkung von Filmen immer noch überwiegend ausgehend von den visuellen Elementen des Films, den Bildern, beschreiben, stellt der Begriff der Auralität – in Anlehnung an den englischen Begriff "aurality" – die Rolle auditiver Elemente in den Vordergrund, und zwar solche, die im Zusammenspiel mit den visuellen Elementen eine die Rezeption leitende Funktion übernehmen. (3)

Wenn die Auralität eines Films untersucht wird, sind es folglich nicht mehr nur die auditiven Elemente, deren Wirkung dem Arrangement der Bewegtbilder folgt; es sind im Falle starker Auralität umgekehrt die im Rahmen der Montage arrangierten Bewegtbilder, deren Wirkung letztendlich aus ihrem Zusammenspiel mit der auditiven Dimension von Filmen bestimmt wird. (4)

Ton im Film kann als organisierte Form von Schallereignissen definiert werden. (5) Unterschieden wird dabei zwischen Geräuschen (Hintergrundgeräusche wie Straßenlärm, Klappern von Schuhen, Wasserrauschen, etc.), Mono- bzw. Dialogen sowie Musik (diegetische Musik und nicht-diegetischer Score). Ihre Synthese ergibt die Klangwelt bzw. die "Soundscape" (Schafer 1977) des Films, die unter Tontechnikern auch als Soundtrack bezeichnet wird (vgl. Lensing 2005, S. 117).

Die über die Bildspur vermittelten visuellen Reize von Filmen lassen sich als organisierte Darstellung von Bewegung verstehen – die Bewegung der (tatsächlichen oder implizierten) Kamera im Filmraum, die Bewegungen von Figuren und Gegenständen in diesem kameravermittelten Filmraum, die Eigenbewegung des kameravermittelten Filmraums sowie die Schnitte zwischen einzelnen Bildeinstellungen.

Aus der koordinierten Abfolge bzw. Koexistenz dieser Elemente der Bild- und Tonspur (und somit nicht lediglich aus dem Schnitt) ergibt sich die Montage des Films, welche die Auralität organisiert. Hierbei entstehen unterschiedliche Dominanzverhältnisse der visuellen und auditiven Ausdrucksmittel zueinander. Diese Dominanzverhältnisse können modellhaft differenziert werden. Erstens: Die Gestaltung der Bewegtbildelemente kann die Gestaltung der Tonelemente steuern (dies ist z. B. bei Stummfilmvorführungen mit begleitender improvisierter Live-Musik der Fall). Zweitens: Bild- und Tonspur können weitgehend gleichberechtigt aufeinander Bezug nehmen. Drittens: Die Gestaltung der Tonspur (oder Elemente dieser) kann die Gestaltung der Elemente der Bildspur steuern (evident ist dies insbesondere bei Musikvideos, professionellen Konzertmitschnitten oder Filmszenen, die diegetische Musikelemente enthalten). Diese Differenzierung kann sowohl den gesamten Film als auch einzelne Teile eines Films betreffen.

Es lassen sich Intensitätsgrade der Auralität festlegen, die von schwacher hin zu starker Auralität reichen. (6) Wird die Tonspur (oder Aspekte der Tonspur) mit einer der oben skizzierten 'Bewegungskategorien' der Bildspur synchronisiert, so sprechen wir von schwacher Auralität. Beispielsweise liegt schwache Auralität vor, wenn Filmfiguren – wie in den Pippi Langstrumpf-Filmen ein Lied singend durch eine ansonsten statische Einstellung laufen. Wird die Tonspur (oder Aspekte der Tonspur) mit mehr als einer Bewegungskategorie synchronisiert, sprechen wir von starker Auralität.

Der Begriff der Auralität soll dabei helfen, Filme oder Filmteile zu identifizieren, deren Wirkung auf die Rezipienten vor allem durch die Tonspur des Films gesteuert wird. Auralität kann verschiedene narrative, strukturelle, dramaturgische oder immersive Funktionen einnehmen. (7)


 Literatur:

  • Bullerjahn Claudia: Grundlagen der Wirkung von Filmmusik. Augsburg, 2007 (2. Auflage).
  • Chion, Michel: Audio‐Vision: Sound on Screen. New York: Columbia University Press, 1994.
  • Chion, Michel: The Voice in Cinema. New York: Columbia University Press, 1999.
  • Chion, Michel: Film: a Sound Art. New York: Columbia University Press, 2009.
  • Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Sachteil, Band 6: Meis-Mus. Hrsg. von Ludwig Finscher: 2., neubearb. Ausgabe. Kassel [u.a.]: Bärenreiter 1997.
  • Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Hrsg. von Ulrich Broich und Manfred Pfister. Tübingen: Niemeyer, 1985 (= Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft; 35).
  • Kerins, Mark: Beyond Dolby (stereo): Cinema in the Digital Sound Age. Bloomington: Indiana University Press, 2010.
  • Kurwinkel, Tobias und Philipp Schmerheim: Auralität und Filmerleben. Ein Ansatz zur Analyse von Kinder- und Jugendfilmen am Beispiel von Harry Potter und der Gefangene von Askaban und Der gestiefelte Kater. In: Von wilden Kerlen und wilden Hühnern. Perspektiven des modernen Kinderfilms. Hrsg. von Christian Exner und Bettina Kümmerling-Meibauer. Marburg: Schüren, 2012a. S. 85-105; Kurwinkel, Tobias und Philipp Schmerheim: Auralität und Filmerleben. Ein rezipientenorientierter Ansatz zur ausdrucksmittelübergreifenden Analyse des Kinder- und Jugendfilms. In: Astrid Lindgrens Filme. Auralität und Filmerleben im Kinder- und Jugendfilm. Hrsg. von Tobias Kurwinkel, Philipp Schmerheim und Annika Kurwinkel. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2012b. S. 13-34 (= Kinder- und Jugendliteratur Intermedial; 1).
  • Kurwinkel, Tobias und Philipp Schmerheim: Kinder- und Jugendfilmanalyse. Konstanz und München: UVK (= UTB 3885); Lensing, Jörg U.: Filmton. In: Schleicher, Harald/ Urban, Alexander (Hrsg.): Filme machen. Technik. Gestaltung. Kunst. Klassisch und digital. Frankfurt am Main, 2005. S. 109‐154.
  • Lowering the Boom: Critical Studies in Film Sound. Hrsg. von Jay Beck und Tony Grajeda. Urbana: University of Illinois Press, 2008.
  • Pinch, T. J. und Karin Bijsterveld: The Oxford Handbook of Sound Studies. New York: Oxford University Press, 2012.
  • Schafer, R. Murray: The Soundscape. Our Sonic Environment and the Tuning of the World. Rochester, 1977.
  • Sonnenschein, David: Sound Design: The Expressive Power of Music, Voice, and Sound Effects in Cinema. Studio City, CA: Michael Wiese Productions, 2001.
  • The Future of Sound Studies. Hrsg. von Tony Grajeda und Jay Beck. Liverpool: Liverpool University Press, 2009 (= Music, sound & the moving image, v. 2, issue 2).
  • The Oxford Handbook of Sound Studies. Hrsg. von T. J. Pinch und Karin Bijsterveld. New York: Oxford University Press, 2012.
  • Whittington, William: Sound Design & Science Fiction. Austin, TX: University of Texas Press, 2007.

 
Fußnoten:

[1] Der hier explizierte Begriff der Auralität wurde erstmals in Kurwinkel/Schmerheim 2012a und 2012b vorgestellt und in Kurwinkel/Schmerheim 2013 ausführlicher entwickelt.

[2] Auch ein vollständig unvertonter Film würde – zumindest im zeitgenössischen Kino – durch die Abwesenheit auditiver Elemente auffallen.

[3] Vgl. Kurwinkel/Schmerheim 2013, S. 124f. Die Bildfixiertheit der Filmtheorie zeigt sich auch daran, dass filmanalytische Ansätze auditive Elemente tendenziell unter "ferner liefen" abhandeln. Vgl. u.a. Hickethier 2012, Korte 2010, Mikos 2008. Eine Gegenbewegung stellen die derzeitigen Versuche dar, Impulse der Sound Studies (Pinch/Bijsterveld 2012) auch für die Filmwissenschaft fruchtbar zu machen, z.B. in Beck/Grajeda 2008, Beck/Grajeda 2009, Birdsall 2012: Kap. 4, insbes. 144ff., Huvenne 2012. Einer der einflussreichsten Theoretiker der Rolle auditiver Elemente im Film ist Michel Chion (Chion 1994, Chion 1999, Chion 2009). Einflussreich sind auch die eher an Produktionstrends des Hollywoodkinos orientierten Publikationen Kerins 2010, Sonnenschein 2001 und Whittington 2007. Auch filmtheoretische Strömungen, die auf die taktile bzw. haptische Dimension des Films abheben, weisen eine deutliche Tendenz auf, auditive Aspekte zugunsten eingehender Erörterungen visueller Merkmale zu umgehen.

[4] Auralität kann unabhängig von den tatsächlichen Produktionsbedingungen eines Films vorliegen. Auch in einem Film, dessen Soundscape durchgängig erst im Anschluss an die Produktion der Bewegtbilder am Set entstanden ist, ist es prinzipiell möglich, dass seine Wirkung auf die Rezipienten vorwiegend durch die Soundscape geprägt wird. Der Produktionsprozess stimmt also nicht notwendigerweise mit den Rezeptionsfaktoren überein.

[5] Diese Definition orientiert sich an einer der Musik-Definitionen in Finscher 1997, Sp. 1205.

[6] Zu dem Intertextualitätsmodell von Broich und Pfister siehe Broich/Pfister 1985.

[7] Die hier skizzierte Unterscheidung orientiert sich an Claudia Bullerjahns Metafunktionen der Filmmusik, die sich auch auf die Beschreibung der generellen Funktion von Montage anwenden lässt. Anstelle von immersiven Funktionen spricht Bullerjahn von persuasiven Funktionen (Bullerjahn 2007).