Uwe-Michael Gutzschhahn bei der Präsentation seines neusten und von der Kritik gelobten Lyrikbandes in der Buchhandlung des Michaelsbunds (c) Stierstorfer

Kinderlyrik liegt Ihnen besonders am Herzen. Wie sind Sie zum Dichten für Heranwachsende gekommen?

Ich komme ja ursprünglich von der Lyrik und habe zahlreiche Gedichtbände für Erwachsene publiziert, zuletzt 2021 den Band "Die Geschichte des Hasen endet im Topf" (Vorwerk 8). Als ich zwanzig Jahre lang in Verlagen gearbeitet habe – zwischen 1981 und 2001 –, taten sich erste Möglichkeiten auf, Gedichte für Kinder herauszugeben, etwa in der Ravenburger-Reihe "RTB Gedichte" (1987-92). Von da an hat mich der Gedanke nie mehr ganz losgelassen. Und irgendwann fing ich an, eigene Gedichte für Kinder zu schreiben, die dann 2012 in meinem ersten Buch "Unsinn lässt grüßen" (Gerstenberg) erschienen.

Wieso führt Kinderlyrik Ihrer Meinung nach immer noch teilweise ein Schattendasein im literarischen Betrieb, gerade mit Blick auf den zumeist größeren Erfolg anderer kinder- und jugendliterarischer Gattungen?

Es liegt wohl hauptsächlich an den schlechten Erfahrungen vieler Erwachsener mit Lyrik in der Schule. Auswendiglernen ist für viele Menschen ein Gruselerlebnis. Später folgt das Interpretieren, das auch nicht gerade als Leidenschaft erfahren wird. Was Erwachsene nie oder doch zumindest viel zu selten erlebt haben, ist Freude und Spaß mit Gedichten, das Spiel mit der Sprache und das Staunen, was sich mit Sprache machen und sagen lässt. Ich begegne immer noch vielen Studierenden aufs Lehramt, die weder Gedichte kennen noch mögen, und zugleich einen inneren Widerstand gegen Lyrik haben. So kaufen sie auch meist keinen Gedichtband, keine Anthologie. Es ist ein Kreislauf. Und wenn sich Gedichtbände aus den genannten Gründen nicht üppig verkaufen, ist auch der Buchhandel wenig geneigt, Gedichtbücher so sichtbar zu präsentieren, dass sie ins Auge fallen.

Kinder sind da ganz anders. Ich habe in meinen vielen Lesungen und Workshops nicht ein Mal erlebt, dass sie sich gegen Lyrik gesperrrt haben. Ganz im Gegenteil. Ich erlebe Begeisterung, Jubel, Beifall – und ganz viele Fragen. Wenn es erlaubt wäre, Bücher in Schulen zu verkaufen, und wenn Kinder bei der Lesung einer Dichterin bzw. eines Dichtes Geld zum Kauf dabei hätten, wäre das ein echtes Geschäft. Immer wieder fragen die Kinder bei meinen Veranstaltungen: Kann ich das Buch bei dir kaufen?

In dem von Ihnen mitverfassten Gedichtband „Dunkel war’s, der Mond schien helle“ (2023; Aladin bei Thienemann) haben Sie mit vielen namhaften Lyrikerinnen und Lyrikern Deutschlands wie Paul Maar und Heinz Janisch zusammengearbeitet. Wie war diese Kooperation für Sie?

Ich habe schon öfter mit anderen Dichtern und Dichterinnen zusammengearbeitet. Die Idee bei dem Buch war ja, die neu verfassten Verse genauso anonym zu lassen, wie es die ursprünglichen sind. Es ist ein Volksgutgedicht und Volksgutgedichte kennen keinen fixierten Autorennamen. Ich habe die Idee, so ein Fortschreibegedicht zu initieren, mit befreundeten Dichterinnen und Dichtern besprochen, wir haben uns gegenseitig Verse zugeschickt, ich habe die eingehenden Verse anonymisiert und an die Mitdichtenden weitergeleitet, um ihre Ideen und Vorschläge nicht von der Bekanntheit oder Unbekanntheit eines Namens tangieren zu lassen. Und so kamen Vorschläge zum Verbessern und Verstärken der Zeilen ins Spiel, was am Ende tatsächlich dazu geführt hat, dass ein Vers des Autors XY gar nicht mehr sein alleiniges Werk war. Wir kennen also bei den fast 25 neuen Versen zwar die Beteiligten, aber es lässt sich nicht mehr zurückverfolgen, wer welche Idee zu welcher Zeile hatte. Das ist das Wunderbare an diesem Buch.

Diese herausragende Weiterzählung des Scherzgedichts mit unbekanntem Verfasser aus dem 19. Jh. wurde kongenial illustriert von Jens Rassmus. Wie ist der Verlag bzw. sind Sie auf diesen Künstler gekommen?

Mich stört der Begriff "Scherzgedicht". Ein Nonsensgedicht ist viel mehr, es hat einen klugen Bauplan, den man sogar wissenschaftlich als Oxymoron bezeichnet. Die Idee, Jens Rassmus für das Buch zu gewinnen, kam sowohl von mir als auch vom Verlag – ein Glücksfall. Ich könnte mir niemanden vorstellen, der das nicht Zusammenpassende so genial und anschaulich in Bildern montiert, also eben doch zusammenführt und den Betrachter in Staunen versetzt. Jens Rassmus ist mit seinen zeichnerischen Mitteln genau das, was ich mir auch von allen Gedichten für Kinder erhoffe und wünsche: dass das Gesagte Bilder hervorruft, die Jung und Alt in Staunen versetzen.

Welche Rolle spielt Lyrik in Ihrem Alltag?

Eine große, stetige, alltägliche. Gedichte sind Sprachmusik. Ein Gedicht lebt und erfindet sich aus dem Klang, aus der Musik. Und alles, was ich sonst literarisch tue – auch beim Übersetzen – ist geprägt von einem musikalischen Denken, Fühlen, Erfinden.

Sie geben auch viele Kinderlyrik-Workshops. Wie kann man Ihrer Meinung nach Heranwachsende für Lyrik begeistern – gerade auch im Schulkontext?

Ich habe keine Schwierigkeiten, mit Kindern Gedichte zu erfinden. Sie haben ja Lust dazu, sie sperren sich nicht. Für Kinder ist es normal, dass sie mit 5 Jahren im Kindergarten, mit 8 Jahren in der Schule und jederzeit zuhause mit der Sprache spielen, das Gleichklingende suchen, die Wege dazwischen mit Ideen füllen. Es ist ein Spaß, wenn sie erleben, dass da etwas wächst.

Was in der Schule falsch läuft, ist, dass Literatur einen Zweck haben soll. Im Prinzip ist das schon okay, aber erst mal, als Allererstes, ist ein Gedicht ein Text zum Erleben, zum Hören, zum Wahrnehmen. Ich habe vor vielen Jahren mal den Vorschlag gemacht, in der Grundschule jede Deutschstunde mit einem – laut vorgetragenen – Gedicht beginnen zu lassen, ohne Verbindung zum weiteren Stundenziel. Und ich habe gewettet, dass nach dem 5. Gedicht von den Kindern ganz automatisch die Frage nach dem 6. kommt, wenn es plötzlich ausbleibt. "Und jeden Morgen ein Gedicht" (2019; Universi) heißt deshalb auch eine Anthologie, die ich an der Uni Siegen mitherausgegeben habe. Ich habe viel Post zu meiner Aufforderung bekommen und immer wieder die Bestätigung, dass es bei den Gedichten am Anfang der Deutschstunde genauso gelaufen ist wie prophezeit.

Wie holen Sie sich kreative Impulse, wenn Sie gerade eine Schreibblockade haben?

Wenn ich nicht weiter weiß, lass ich das Ding liegen – manchmal nur für einen Spaziergang, manchmal für eine kleine Ewigkeit (gefühlt). Es gräbt sich Wege in meinen Hirnwindungen, verirrt sich, kehrt um, kehrt zurück – und irgendwann kommt etwas heraus, das weiterführt.

Sie haben das viel beachtete epische Gedicht "Zorgamazoo" (2012; Jacoby & Stuart), also einen Roman in Versform von Robert Paul Weston, poetisch ins Deutsche übertragen. Wie sind Sie dabei vorgegangen, um den künstlerischen Ton des Originals zu treffen?

Man kann so ein Buch nicht Wort für Wort übersetzen. Dazu läuft die deutsche Sprache – im Vergleich zum Englischen – viel zu lang. Und der balladenhafte Ton des ganzen Buches erforderte Reduzierung auf maximal vier Hebungen je Zeile. Das ist geradezu zwingend, sonst schleppt sich der Fortlauf dahin. Aber eine Versgeschichte auf 280 Seiten darf sich nicht schleppen, also muss man den Kern transportieren. Und das Schöne ist: Während man sich am Anfang von Zeile zu Zeile, von Reim zu Reim arbeitet, gerät man bald in einen musikalischen Sog und dann fällt einem vieles ganz einfach zu.

Versromane haben teilweise Konjunktur und werden mittlerweile auch regelmäßig für Preise nominiert. Was hat dieses Hybridgenre für einen Reiz – einerseits für Verlage andererseits für Rezipientinnen und Rezipienten?

Die meisten Versromane – die anders als die Mehrheit der hier angesprochenen Gedichtbücher (und auch der Roman „Zorgamazoo“) ungereimt sind – haben ihren besonderen Reiz durch die vom Vers erzwungene Reduzierung. Auch hier, zum Beispiel bei dem von mir übersetzten australischen Dichter Steven Herrick ("Ich weiß, heute Nacht werde ich träumen" (2019; Thienemann)), wird in Bildern erzählt. Die Bilder erzählen, nicht die ausgebreitete Geschichte. Der Versroman gibt Momenten Raum, Klang und Atmosphäre, das ist die besondere Kunst. Und die Sprachmelodie trägt den Lesenden durch die Bilder.

Sie haben zahllose Preise für Ihre Arbeit sowohl als Lyriker als auch als Übersetzer erhalten. Was bedeuten Ihnen diese? Welche Konsequenzen zieht der Erhalt dieser Preise mit sich?

Preise sind schön, sind Anerkennung für die ja oft leise, oft stille, im Verborgenen stattfindende Arbeit. Literatur will wahrgenommen werden. In der großen Flut von Büchern fördert ein Preis – manchmal – diese Wahrnehmung.

Wer sind Ihre wichtigsten Vorbilder im lyrischen Bereich?

Da gäbe es für die zahlreichen Felder, in denen ich arbeite, zu viele Namen zu nennen. Für die Kinderlyrik nenne ich gern Christian Morgenstern und Ernst Jandl, aber auch den großen Sprachspieler und -erfinder Oskar Pastior.

Ihr lyrisches Ausnahmetalent ist zweifellos herausragend und Ihre Gedichte sind höchst unterhaltsam und ästhetisch zielsicher durchkomponiert. Hätten Sie für uns zum Schluss ein kurzes Gedicht parat?

Weil Sie ein kurzes Gedicht wünschen, soll hier das kürzeste stehen, das ich je geschrieben habe. Wenn ich es vorlese, hört man immer für einen kurzen Moment die Rädchen in den Köpfen der Zuhörenden arbeiten. Das ist bei Kindern und Erwachsenen gleich. Das Gedicht ist schon alt und stand in dem ersten Lyrikband, den ich für Kinder veröffentlicht habe. Hier also:

Aufgegessen

Es

          war

                    ein

                              Mahl

 

Autor Gutzschhahn 1Uwe-Michael Gutzschhahn beim stimmungsvoll-rhythmischen Vorlesen von Versen (c) Stierstorfer