Sie wirkten als Schauspielerin in zahlreichen Filmen und Serien mit, sind in der Spielzeit 2023/2024 bei diversen Theaterinszenierungen auf den Bühnen in Halle (Wir Kinder vom Bahnhof Zoo), Braunschweig (Stolz und Vorurteil*(*oder so) und KOMA) und Bern (La vie parisienne) zu sehen und arbeiten als erfolgreiche Hörbuch-/Hörspielsprecherin. Zudem sind Sie auch noch eine begnadete Sängerin. Wie sieht bei diesen zahlreichen und vielseitigen Engagements an verschiedenen Örtlichkeiten eine typische Arbeitswoche für Sie aus?

Nora Schulte: Seit einem Jahr bin ich freischaffend tätig. Dadurch hat sich mein Arbeitsleben extrem verändert. Ich habe meine Base nach wie vor in Halle, bin aber viel mehr unterwegs und muss wesentlich flexibler sein. Ich habe zuerst gedacht, dass ich das Arbeitspensum nach dem sehr fordernden Festengagement runter schrauben kann. Es ist aber diesbezüglich sehr viel mehr geworden. Das ist zwar sehr fordernd, macht mich aber unheimlich glücklich – dass ich die Möglichkeit habe, viele verschiedene Projekte zu machen, ist toll. Deswegen kann ich jeden komplett anders verlaufenden Tag, jede variierende Woche genießen. Es kann durchaus sein, dass ich abends im Staatstheater Braunschweig auf der Bühne stehe und noch am selben Abend oder am nächsten Morgen ganz früh nach Halle fahre, dort Sachen umpacke, für die Aufnahmen nach Leipzig ins Tonstudio fahre und am Abend gehts wieder nach Halle zurück, um mich auf die nächste Vorstellung oder auf das nächste Hörbuch vorzubereiten.

Wie wichtig ist Ihnen dabei die Work-Life-Balance bzw. wie finden Sie Ihren Ausgleich?

Nora Schulte: Wenn ich viel unterwegs bin, schaffe ich das nur mit Routinen. Im ersten Jahr als Freiberuflerin blieb das Privatleben ein bisschen auf der Strecke, weil ich mich erst einmal orientieren und herausfinden musste, wer ich in diesem Arbeitskontext bin oder sein möchte. Und was mir hilft, da die Erdung zu behalten, ist beispielsweise meine Morgenroutine: ein großes Glas Wasser, Meditation, Yoga, Pilates und eine kalte Dusche. Aber ich muss zugeben, dass ich ganz viel Energie (oder Life) auch aus der Arbeit selbst ziehe.

Während der Spielzeit 2020/21 haben Sie an dem neuen Theater in Halle in dem Bühenstück Name: Sophie Scholl von Rieke Reiniger die Hauptrolle gespielt (vgl. Abb. 2). Darin geht es um eine junge Jurastudentin, die in keiner Verbindung zu der Namensvetterin und Widerstandskämpferin der Weißen Rose steht. Sophie soll vor ihrem Examen vor Gericht gegen ihren Professor wegen Betrugs aussagen. Dabei gerät sie in einen moralischen Zwiespalt: "Soll sie lügen, um ihr Examen und ihre Karriere zu sichern? Oder soll sie die Wahrheit sagen und damit ihre berufliche Zukunft gefährden?" Das Theaterstück war ursprünglich als interaktives Bühnenstück angedacht, aufgrund der Corona-Pandemie wurde es in einen Live-Videochat abgeändert. Hat die Interaktion mit den Schüler:innen reibungslos funktioniert?

Nora Schulte: Natürlich gab es Klassen, bei denen sich die jungen Menschen sehr stark eingebracht haben, andere wiederum waren sehr schüchtern und haben sich kaum geäußert. Einige Schüler:innen schalteten die Kameras gar nicht erst ein. Das macht es mir natürlich schwer, Reaktionen auf die Inszenierung einzuschätzen. Aber in 95% der Fälle hat es gut funktioniert. Und es war jedes Mal neu. Es war sehr spannend, mit jungen Menschen die moralischen Fragen zu diskutieren, die sich die Jurastudentin Sophie Scholl gestellt hat. Es gab Kinder, die bereits einen sehr ausgeprägten moralischen Kompass hatten und andere wiederum haben sehr ehrlich gesagt: "Mach' doch den Betrug mit, damit du die Prüfungen schaffst." So hinkend ich den Vergleich der NS-Widerstandskämpferin Sophie Scholl mit einer jungen Jurastudentin, die kurz vor dem Examen steht, empfand und nach wie vor empfinde, so spannend waren die Gespräche. Wir ließen die Entscheidung unserer Sophie offen. Nach Ende des Stücks gab es eine Umfrage, wie die Kinder entscheiden würden: Aussagen oder nicht. Das Ergebnis fiel jedes Mal anders aus.

Abb. 2: Inszenierung Neues Theater Halle, Nora Schulte als Jurastudentin Sophie Scholl in dem während der Corona-Pandemie per Videochat übertragenen Bühnenstück Name: Sophie Scholl, © Falk Wenzel/stage pictures

Inwiefern hat die Corona-Pandemie Ihren (Arbeits)alltag verändert?

Nora Schulte: Ich war extrem privilegiert, in dieser Zeit fest angestellt zu sein. Und ich musste mir keine Sorgen darüber machen, wie ich meine Miete bezahlen kann. So konnte ich mir Gedanken darüber machen, welche Alternativen es zu einem physischen Theaterbesuch gibt und hatte auch die seelischen Ressourcen, ein solches Format mitentwickeln zu können.

Besteht mittlerweile eventuell die Möglichkeit, notfalls auf digitalem Weg an Proben teilzunehmen?

Nora Schulte: Während der Corona-Zeit fanden die Leseproben tatsächlich per Zoom statt. Wenn es um dramaturgische Aspekte geht, um Besprechungen etc., dann finde ich diese Option immer noch großartig, aber letztendlich lebt der Beruf von direkter Interaktion und da waren sich doch alle recht schnell einig, dass das Digitale das Physische nicht ersetzen kann.

Ich gehöre noch zu der Generation der "Kassettenkinder" und bin mit den Hörspielen der Drei ???, TKKG und Die Fünf Freunde aufgewachsen. Wenn Sie ein Mixtape ihrer Hörspielsozialisation zusammenstellen würde, was würde dieses beinhalten?

Nora Schulte: Ich bin in meiner Kindheit mit sehr vielen Hörspielen aufgewachsen. Mein Vater ist ebenfalls Schauspieler und Sprecher und hat Hörspiele eingesprochen, die ich dann bekommen habe. Ich habe es geliebt, in meinem Kinderzimmer auf dem Boden zu sitzen, zu basteln oder zu malen und dabei den Hörspielen zu lauschen. Geprägt haben mich ganz sicher Der Traumzauberbaum von Reinhard Lakomy – der lief rauf und runter − und Das Tierhäuschen von Samuil Marschak. Diese zwei Titel wären auf jeden Fall auf meiner Playlist enthalten. Und natürlich Frau Holle auf Reisen von Sebastian Goy.

Können Sie sich an den Moment zurückerinnern, in dem in Ihnen der Wunsch herangereift ist, Hörspiel/Hörbuchsprecherin zu werden? Fungierte Ihr Vater da in gewisser Weise auch als Vorbild?

Nora Schulte: Ich habe mir schon ganz früh gewünscht, mal was einzusprechen. Mein erstes Kinderhörspiel Der Mann der Weihnachtsfrau (von Peter Jacobi) habe ich mit 11 Jahren eingesprochen. Ich war unheimlich aufgeregt. Es wird immer noch jedes Weihnachten bei Deutschlandradio Kultur gesendet. Das ist wirklich eine ganz süße Geschichte. Den Text kann ich tatsächlich immer noch auswendig mitsprechen. Dann kam die Schauspielschule. Und als meine Sprechdozentin an der Uni mir direkt ins Gesicht gesagt hat, dass sie meine Zukunft definitiv nicht beim Sprechen sehen würde, war ich schon sehr geknickt. Aber wie es der Zufall so will, hat mich ein paar Jahre später ein Kollege, der regelmäßig Hörspiele einspricht, weiterempfohlen. Er dachte, das könne ich sicher gut. Und so wurde ich zum Vorsprechen nach Leipzig eingeladen. Ich war sehr aufgeregt. Zum einen, hatte ich noch die Stimme meiner Dozentin im Ohr, zum anderen ist Vorlesen absoluter Stress für mich und prima vista funktioniert es schon einmal gar nicht. Ich muss mich supergut vorbereiten, damit irgendwie ein Fluss entsteht. An diesem Tag ist mir wohl ein Fluss gelungen - kurz: Seitdem spreche ich regelmäßig Hörbücher ein.

Es ist schön zu hören, dass Sie - trotz der ungünstigen Prognose der Dozentin - an Ihrem Traum festgehalten haben.

Nora Schulte: Ja, ich hab‘ immer gehofft... vielleicht bin ich aber auch sehr anfällig für umgekehrte Psychologie. Mein Vater hat mir damals auch vehement davon abgeraten, Schauspiel zu studieren. Und ich bin direkt zur Aufnahmeprüfung gestratzt. Beim Thema Sprechen war es tatsächlich mehr ein sehr, sehr beglückender Zufall, als aktives Traumverfolgen. Aber ich will es nicht mehr missen, auch diese Facette meines Berufes so ausleben zu können.

Und Sie sind darin sehr erfolgreich, denn Sie arbeiten mittlerweile als freiberufliche Sprecherin für renommierte Hörbuchverlage und sprechen dort insbesondere Belletristik-Titel oder Ratgeber ein. Aber auch im Hörbuch-Bereich für Jugendliche sind Sie u.a. mit Juli Dorns Tempting Fate (New Adult Romantasy) vertreten. In 2023 haben Sie beispielsweise die Jugendromane Lächelnd wirst Du sterben von Monika Feth und Girl in Pieces von Kathleen Glascow eingesprochen. In der letztgenannten Coming of Age-Geschichte geht es um die siebzehnjährige, depressive Charlotte, die einen Hang zum Ritzen und zum Suizid hat. Das Hörbuch hat eine Dauer von knapp 13 Stunden. Ist das ein Sprecher:innenjob wie jeder andere oder bereitet man sich in einer anderen Weise als sonst darauf vor? Wie sehr hängen Ihnen die darin behandelten Inhalte nach dem Einsprechen noch nach?

Nora Schulte: Es ist sehr unterschiedlich, wie lange mich ein Hörbuch beschäftigt. Zudem entwickelt man mit der Zeit eine gewisse Professionalität, damit umzugehen und wieder loszulassen. Mir hilft da Laufen. Das ist in Bezug auf meine Work-Life-Balance vielleicht auch noch ein Punkt. Ich gehe sehr viel spazieren – meistens mit meinem Hund − am liebsten in der Natur. Im besten Fall ohne Musik auf den Ohren, ohne irgendeine Ablenkung. Aber auch zur Arbeit und zurück gehe ich, um mich mental vorzubereiten oder eben loszulassen. Ich kann mich erinnern, dass ich an diesem Titel auf jeden Fall zu knuspern hatte, weil mir das Buch sehr nahe ging. Aber es ist schön, etwas einzulesen, was Teenagern eine Hilfe sein kann.

Der Roman und das Hörbuch wurden aufgrund der sensiblen Thematik mit einer Triggerwarnung versehen. Seit geraumer Zeit sind diese vor allen Dingen in der Film- oder Serienlandschaft zu finden. Langsam setzt sich die Warnung vor sensiblen Inhalten aber auch auf dem (Hör-)Buchmarkt durch.

Nora Schulte: Ich kann diese Entwicklung nachvollziehen, bräuchte sie selbst aber nicht immer zwingend. Aber wenn jemand Triggerwarnungen braucht oder sich wünscht: "Who am I" zu sagen, ich gehe über die Gefühle und Bedürfnisse anderer hinweg? Ich glaube, diese Haltung ist wichtig im Umgang mit sensiblen Themen. Man kann nicht immer alles richtig machen und mitdenken. Aber man kann versuchen, offen zu bleiben und bereit zu sein, dazuzulernen. Sich auch mal einzugestehen, dass man möglicherweise etwas nicht bedacht hat, blinde Flecken hat. Und es ist meiner Meinung nach sehr wichtig, dass man sich in so einem Fall auch entschuldigen kann.

Gegenwärtig wird das Thema Racevoicing ("Bezeichnung für die Praxis der Stimmverstellung in elektroakustischen Medien, um Menschen einer anderen Ethnie darzustellen") kontrovers in der Gesellschaft diskutiert. Wie gehen Sie damit als Sprecherin um?

Nora Schulte: Ich bin in diesem Kontext bislang hauptsächlich mit dem französischen Akzent in Berührung gekommen. Ich habe den Eindruck, dass einige Akzente bei diesem Thema weniger problematisch behandelt werden als andere. Ich halte es für vertretbar, wenn Figuren mit Akzenten sprechen, wenn es eine explizite textliche Vorlage gibt. Es gibt aber auch Kolleg:innen, die das grundsätzlich nicht machen. Da steht dann beispielsweise "spricht mit starkem französischen Akzent" und das müssen sich dann die Zuhörer:innen vorstellen. Auch das kann ich nachvollziehen. Ich persönlich liebe es, mich stimmlich zu verwandeln und auszuprobieren.

Das Thema kam für mich in anderer Weise auf, als ich vor zwei Jahren dafür angefragt wurde, die Biographie Look at me: Ein schwarzes Mädchen in einer weißen Welt der niederländischen Musicaldarstellerin Ana Milva Gomes einzulesen. Ich habe mich sehr geehrt gefühlt und wollte das sehr gerne machen. Bei dem Verlag habe ich trotzdem nachgefragt, ob sie sich sicher sind, dass dieses Hörbuch von einer weißen jungen Frau eingelesen werden soll. Die Autorin Frau Gomes hat sich dann selbst bei mir gemeldet: Sie habe meine Stimme gehört und wolle ihr Hörbuch von mir eingelesen haben – Ich hatte also ihren Segen. Und so würde ich auch in Zukunft verfahren, sollte mir noch einmal so ein Angebot unterbreitet werden.

Welcher Figur aus einem Kinder- oder Jugendroman oder würden Sie gerne Ihre Stimme verleihen und warum?

Ich habe bereits vor Kurzem fast einen Kindheitstraum erfüllt bekommen und durfte für eine sehr bekannte Kinderserie eine Figur einsprechen (vgl. Abb. 3). Es handelte sich dabei um ein kleines Teufelchen. Ich habe allerdings als Coach für die Kinder fungiert, die es letztendlich einsprechen sollen. Das bedeutet, dass die Kinder mein Audio erhalten, um es stimmlich nachzuahmen. Zwar hört man dann später nicht meine Stimme, aber meine Interpretation wird von den Kindern kopiert. Das hat unglaublich viel Spaß gemacht und so etwas würde ich wahnsinnig gerne wieder machen. Und immer, wenn ich für Kinder- und Jugendproduktionen aus dem Studio komme, bin ich bewegt, weil es für mich als Kind so wahnsinnig wichtig war, so etwas zu hören und mich in Fantasiewelten zu begeben und verlieren zu können. Es bedeutet mir unglaublich viel, solche tollen Produktionen für Kinder mitgestalten zu dürfen. Und wenn wir wieder von Träumen sprechen: ich würde mich unglaublich darüber freuen, in einem Animationsfilm von Disney oder Pixar mitsprechen zu dürfen.
Abb. 3: Nora Schulte im Tonstudio während des Einsprechens einer Figur einer beliebten Kinderserie, © Nora Schulte

Könnten Sie sich auch vorstellen, im Computerspielbereich als Sprecherin zu fungieren? Welches Genre würden Sie dann präferieren?

Nora Schulte: Das habe ich tatsächlich schon mal getan. Für das Mittelalter-Spiel Luther. Nur ein paar kleinere Rollen, aber ich würde das super gerne auch einmal für einen Charakter mit richtiger Storyline machen. Das Genre wäre zweitrangig, aber an einem Fantasy-Spiel mit mehreren Welten mitzuwirken, wäre der Knaller.

In der Spielzeit 2023/2024 haben Sie am Staatstheater Braunschweig gleich drei Rollen (Jane Bennet, Dienstmädchen Clara, George Wickham) in der humorvollen und peppigen Jane Austen-Adaption von Isobel McArthur gespielt. Die Inszenierung, in der aus der Sicht von fünf Dienstmädchen das Heiratsdrama der Familie Bennet erzählt wird, avancierte zu einem Publikumsrenner und wurde ein Jahr lang vor stets ausverkauftem Haus dargeboten. Durch die humorvolle Art und der Implementierung zahlreicher Popsongs, die das ausschließlich weibliche Ensemble mitreißend und mit Hilfe der musikalischen Begleitung der Singer-Song-Writerin Thari Kaan live performt hat, ist eine zeitgemäße und frische Adaption des Austen-Klassikers entstanden, die vor allen Dingen für ein jugendliches Publikum adressiert ist. In Zeiten von Netflix-Streaming-Serien wie Bridgerton (2019-jetzt), die ähnliche Themen wie Austen aufgreift, kann diese Inszenierung locker mithalten. Sehen Sie die Inszenierung auch als eine gelungene Möglichkeit für ein jugendliches Publikum an, patriarchalische Familien- und Herrschaftsstrukturen und Klassenunterschiede zeitgemäß zu thematisieren? Ich frage auch im Hinblick auf eine mögliche Kontextualisierung in der Schule nach.

Nora Schulte: Ja, das denke ich. Auch wenn der Stoff tricky ist. Man braucht ein gutes Konzept, sonst wird’s platt. Aber Regisseurin Julia Prechsel hatte das; und ihr ist durch ihre geschickte Bearbeitung und ihren klugen Ansatz etwas gelungen ist, das eine sehr große Bandbreite an Zuschauer:innen erreicht. Jede/r auf seine/r Ebene. Man kann sich hineinsetzen, einfach einen tollen Abend haben und viel lachen, man kann aber auch Kritik lesen, sich berieseln lassen oder nachdenken. Wir hatten viele Schüler:innen im Publikum. Teilweise begegnete man einigen nach dem Abend noch auf der Straße und kam ins Gespräch. Und ein Schüler hat mir im Anschluss der Vorstellung erzählt, dass er viel früher ins Theater gegangen wäre, wenn er gewusst hätte, dass Theater so sein kann.

Im Gegensatz zu McArthurs Dramentext haben Sie sich in der Braunschweiger Inszenierung für weitaus aktuellere Songs, wie beispielsweise Slumber Party (Ashniko), Survivor (Destiny‘s Child) und den über Instagram und Youtube verbreiteten Hit Burn for you (Barlow & Bear) aus dem inoffiziellen Soundtrack der bereits erwähnten Bridgerton-Serie entschieden. Welche Gründe haben Sie dazu bewogen, von der Vorlage abzuweichen?

Nora Schulte: Auch hier war die Regisseurin Julia Prechsel federführend. Sie hatte sehr klare Vorstellungen davon, welcher Stil ihre Inszenierung prägen soll. Ich finde, dass sie nicht nur einen fantastischen Musikgeschmack hat, sondern ebenso ein Gespür dafür, welche Songs für die Inszenierung passen würden.

Insbesondere die live dargebotenen Songs von den Sängerinnen haben das Publikum mitgerissen. Wurde vielleicht auch schon einmal darüber nachgedacht, einen Soundtrack zu dieser Inszenierung aufzunehmen?

Nora Schulte: Die Aufnahme eines Soundtracks war tatsächlich ein Thema. Allerdings halbernst untereinander. Genauso wie Merch T-Shirts mit sämtlichen Spielterminen, vergleichbar mit Tourdaten. Es gab nämlich Vorstellungen, in denen man gespürt hat, dass sich die Leute das Stück bereits mehrere Male angesehen hatten. Die fingen dann schon an vorzuwippen oder sich zu sagen, jetzt kommt die Nummer und jetzt die Nummer, oder sie sangen mit. Für Stolz und Vorurteil* (*oder so) hat sich eine richtige Fangemeinde herausgebildet. Und das, obwohl der Großteil von uns Spielerinnen ja gar nicht gesanglich ausgebildet ist. Aber da hat unsere Livemusikerin und Gesangschoachin, die Singer-Songwriterin Thari Kaan, einfach ganze Arbeit geleistet, uns gestützt, herausgefordert und uns wachsen lassen.

Die Inszenierung umfasst knapp drei Stunden Spielzeit und wurde ein ganzes Jahr lang aufgeführt. Wie schaffen Sie es, über diesen langen Zeitraum den Text für diese umfangreichen Rollen zu behalten, zumal Sie auch zeitgleich in anderen Inszenierungen mitwirken. Wenden Sie dafür bestimmte Strategien an, die Sie der Leserschaft verraten können?

Nora Schulte: Zum Glück gibt es so etwas wie ein Körpergedächtnis. Das hilft mir bei so langen Abenden wirklich enorm. Zum Textlernen an sich: Jeder/ Jede macht es anders. Ich z.B. laufe viel dabei, wenn ich mir den Text laut vorsage, und schreibe ihn auf. Und trotzdem gibt es ein Phänomen bei jeder ersten Probe: Ich lerne den Text − zu Hause kann ich ihn fehlerfrei sprechen − und dann stehe ich auf der Probebühne und soll einen Schritt nach links machen oder irgendwie darauf reagieren, was der Kollege/die Kollegin macht – und der Text ist weg! Im besten Fall ist er aber spätestens bei der nächsten Probe wieder da ;)

War das von Anfang an klar, welche Rolle Sie bekommen oder wurde das noch einmal durchgetauscht?

Nora Schulte: Ich war für die Rolle der Jane Bennet gar nicht vorgesehen. Ich bin als Gast in die Produktion reingerutscht, die bei so einem Umfang normalerweise mindestens sechs Wochen geprobt wird. Ich bekam einen Anruf von der Regisseurin Julia Prechsl und sie erzählte mir, dass jemand ausgefallen sei: "Wir haben noch vier Wochen, kannst Du? In zwei Tagen müsstest Du hier sein." Ich sollte zuerst die Rollen von Tillie und Lydia Bennet übernehmen. Aber nach dem Gesangstraining wurde deutlich, dass ich stimmlich besser zur Rolle von Jane passe. Und dann haben wir getauscht und letztendlich kann ich es mir jetzt gar nicht mehr anders vorstellen, als die große Schwester von Elizabeth Bennet (vgl. Abb. 3) zu spielen.

Stolz und Vorurteil Pferd Abb. 3: Inszenierung Staatstheater Braunschweig Stolz und Vorurteil* (*oder so): Jane Bennet (Nora Schulte, Mitte) macht sich mit dem Pferd (Saskia Taeger) auf den Weg zum Anwesen von Charles Bingley. Unterstützt wird sie dabei von Tillie (Julie Niemann, l. im Bild), Mrs. Bennet (Saskia Petzold, v.r. im Bild) und ihrer jüngeren Schwester Elizabeth Bennet (Nina Wolf, h. r. im Bild), © Björn Hickman/stage pictures

Mir ist aufgefallen, dass in gegenwärtigen Theaterstücken die Interaktion mit dem Publikum im Gegensatz zu früher deutlich angestiegen ist. Nicht nur auf verbaler Ebene wird das Publikum mit einbezogen, sondern die Schauspielerinnen sind in Stolz und Vorurteil* (*oder so) sind beispielsweise des Öfteren durch die Reihen gegangen und haben sogar Getränke verteilt. Das baut eine Distanz ab. In einer anderen Inszenierung (Babettes Fest) fand sogar ein Rollentausch dergestalt statt, dass sich das Publikum am Ende der Aufführung auf der Bühne befand und das Ensemble den letzten Akt von der Zuschauertribüne aus dargeboten hat. Wie empfinden Sie als Schauspielerin diese "neue"(?) Nähe zum Publikum?

Nora Schulte: Das ist nicht neu, aber vielleicht ist man nach Corona sensibilisierter dafür. Klar birgt es teilweise herausfordernde Situationen für Zuschauer:innen und auch für Spieler:innen. Wenn man nämlich darauf angewiesen ist, dass jemand reagiert und jemand einfach nicht will, dann ist es eben so. Das ist aber auch der Nervenkitzel für Spieler:innen, der es spannend macht: Was passiert heute, was ist anders, wie muss ich reagieren, wo muss ich besonders wach sein? Direkte Interaktion mit dem Publikum ist ein Mittel, das ich sehr gerne bediene. Wenn ich allerdings selbst im Publikum sitze, hoffe ich insgeheim immer, nicht angespielt zu werden. Da habe ich nämlich keine Rolle hinter der ich mich verstecken kann ;)

In einem Instagram-Post haben Sie in Ankündigung der letzten Vorstellung des Theaterstücks im April 2024 geschrieben, "es war und ist mir ein Fest".  Gehörte diese Inszenierung auch zu ihren Lieblingsstücken?

Nora Schulte: Auf jeden Fall. Und das liegt an der Bearbeitung bzw. der Inszenierung an sich und am ganzen Team. Natürlich spielt mit rein, dass es meine erste Produktion als freischaffende Schauspielerin war. Es hat für mich also auch einen besonderen emotionalen Wert. Außerdem sind enge Verbindungen entstanden. Es rangiert ganz weit oben bei meinen Lieblingsstücken mit. Auch, weil man so viel individuellen Humor mit einbringen durfte. Immer wenn ich Leute eingeladen habe, habe ich gesagt, dass sie drei Stunden zusehen können, was für Hirnschmalz aus mir rauskommt, wenn ich gelassen werde. Julia Prechsel hat diesbezüglich eine so große und herrliche Spielwiese für uns Schauspielerinnen aufgemacht, dass es eine Freude war.

In Halle habe ich bei dem Stück Geht das schon wieder los − White Male Privilige (Annelies Verbeke) in der Inszenierung von Niko Elefthiriadis mitgewirkt, das ich unfassbar gerne wieder spielen würde. Ich hatte zwei fantastische SchauspielerInnen an meiner Seite und der Abend war so böse und so schnell und wir mussten so gut aufeinander achten und aufpassen. Das Stück setzt sich mit Themen wie Rassismus, privilegiert sein, Weiß sein und Ableismus auf einer Weise auseinander, die aufgrund der gegenwärtigen Sensibilisierung einen Grenzgang darstellt: inwieweit spreche ich etwas aus, was eigentlich ein Tabu ist.

Nicht nur im Bereich des Theaters, sondern auch im Bereich des Films scheint das Geschlechterverhältnis unausgewogen zu sein: "Auf eine Frau kommen über alle TV-Programme hinweg nach wie vor rund zwei Männer." Zudem benachteiligt insbesondere im Filmbereich der sogenannte Altersgap weibliche Schauspieler, wie die von Dr. Maria Furtwängler in Auftrag gegebene Studie der MaLisa-Stiftung unter der Leitung von Prof. Dr. Elizabeth Prommer vom Institut für Medienforschung der Universität Rostock im Jahr 2017 (Studie zur audiovisuellen Diversität) herausgestellt hat. Bemerken Sie mittlerweile einen Wandel in der Branche?

Nora Schulte: Ich falle tatsächlich schon in diese Riege. Da kann man als Gast, zum Beispiel als freischaffende Schauspielerin, noch Glück haben, dass man eine Schwangerschaftsvertretung macht. Gerade wenn man sich an den Theatern den klassischen Kanon anguckt, der in vielen Theatern noch oft Spielplan dominierend vertreten ist, wird deutlich, dass die spannenden und großen Rollen zum größten Teil männlich sind. Aber natürlich gibt es immer wieder Versuche, diese Rollen neu zu denken und beispielsweise einen Mephisto als Frau zu besetzen. Ich finde das gut. Ich habe allerdings den Eindruck, dass im Publikum und in der Bubble selbst darüber die Augen gerollt werden... Bei modernen Stücken wird meiner Warnehmung nach mehr Wert darauf gelegt, es gleichberechtigt zu halten oder Frauen mal mehr Raum zu geben, deswegen war Stolz und Vorurteil* (*oder so) ja so grandios, aber das Thema ist noch lang nicht vom Tisch. Die Mühlen mahlen extrem langsam.

Welchen Bereich Ihres facettenreichen Berufs üben Sie am liebsten aus?

Nora Schulte: Ich liebe jeden Bereich davon, wirklich aus ganzer Seele. Aber ich habe auch noch lange nicht jeden Bereich ausreichend erforscht. Vielleicht sogar einige noch gar nicht für mich entdeckt. Ich würde zum Beispiel gerne mehr Filmluft schnuppern. Um die Frage aber (Stand jetzt) zu beantworten: Wenn etwas ein Fünkchen mehr Passion abbekommen würde, dann wäre es das auf der Bühne stehen, also Theater.

Was können Sie angehenden SchauspielerInnen/Sprecherinnen mit auf den Weg geben, durchzuhalten und an Ihrem Traum festzuhalten?

Es kann der schönste Beruf der Welt sein, aber er ist auch verdammt unsicher. Man muss bereit sein, viele Abstriche zu machen. Sowohl im Privatleben als auch in der Planung. Man hat in der Festanstellung möglicherweise nicht die Gelegenheit an Geburtstagen oder Familienfeiern teilzunehmen. Zudem spielt man auch an den Feiertagen, wie Weihnachten und Silvester. Man sollte sich also vorher bewusst machen, ob man das will. Ich hatte auch andere Ideen für meine berufliche Zukunft, hätte auch gern Religionswissenschaften oder Psychologie studiert. Da sähe mein Alltag bestenfalls heute um einiges geregelter aus. Aber für nichts brannte ich letztendlich so sehr wie für das Schauspielen. Und bis heute habe ich nicht daran gezweifelt, dass das die richtige Entscheidung war. Und das schenkt mir Mut, Vertrauen und ist ein fantastisches Gefühl.

Wir danken Ihnen sehr für dieses überaus aufschlussreiche und sehr nette Gespräch, das uns einen spannenden Einblick in die Theater-, Hörbuch- und Filmlandschaft vermittelt hat, und wünschen Ihnen für Ihre weitere Karriere von Herzen alles erdenklich Gute!

Wer in der vergangenen Spielzeit nicht die Gelegenheit wahrnehmen konnte, Nora Schulte beispielsweise in Stolz und Vorurteil* (*oder so) oder in Die Kinder vom Bahnhof Zoo auf der Bühne in Aktion zu sehen, kann dies ab Herbst in der Oper La vie parisienne in Bern nachholen oder sich auf den im Verlauf des Jahres 2024 erscheinenden Kurzfilm Fawn (ab 10 Jahren, https://www.startnext.com/fawn-kurzfilmportrait-einer-ze/mehr-infos) freuen. Darin spielt Nora Schulte die Rolle der mittlerweile erwachsenen Luna, die lange Zeit mit den Nachwirkungen der aus der Trennung der Eltern resultierenden Patchwork-Kindheit zu kämpfen hatte (vgl. Abb. 4).

Nora Schulte Filmset 3
 Abb. 4: Nora Schulte als Juna in dem Kinderfilm Fawn, © Alina Rehhahn

Link zur Filmographie, Audiographie und Theatergraphie von Nora Schulte, online abrufbar unter:

Nora Schulte bei LUX Talents Berlin: luxtalents.com

Nora Schulte Filmmaker-Profil: filmmakers.eu

Nora Schulte Audible-Profil: Nora Schulte (Sprecher) Hörbücher

Nora Schulte bei Instagram: (@nora.c.schulte) • Instagram-Fotos und -Videos instagram.com

Abbildungensnachweis

Porträt: Nora Schulte, Foto: Kerem Bakir

Abb. 1: Neues Theater Halle Name: Sophie Scholl, Foto: Falk Wenzel/stage picture

Abb. 2: Nora Schulte im Tonstudio, Foto: Nora Schulte

Abb. 3: Staatstheater Braunschweig Stolz und Vorurteil* (*oder so), Foto: Björn Hickmann/stage picture

Abb. 4: Nora Schulte am Filmset von Fawn, Foto: Alina Rehhahn