Inhalt

Ein kleiner Fuchs spielt am Strand in den Dünen, spielt mit den Vögeln im Wasser. Als er zwei Schmetterlingen hinterhereilt, stürzt er plötzlich einen Abhang hinab. Er schlägt auf den Sand auf und bleibt bewusstlos liegen. In einem Traum zieht sein bisheriges Leben an ihm vorbei: Er träumt vom Zusammenleben mit den Geschwistern im engen Fuchsbau, vom Mond, von den Gerüchen des Waldes und von Begegnungen mit anderen größeren Tieren. Und er träumt von dem Tag, an dem ihm seine Neugier schon einmal beinahe das Leben gekostet hätte. Damals steckte er seinen Kopf in ein Einmachglas und kam nicht mehr heraus. Er hatte darin leckere Würmer vermutet. Fuchsvaters eingangs zitierter Leitsatz echot schon im Hinterkopf, als ihm plötzlich ein Menschenkind zur Hilfe eilt und seinen Kopf aus dem Glas befreit. Die traumhafte Retrospektive endet mit dem verhängnisvollen Sturz und knüpft somit nahtlos an die Rahmenhandlung an. Nach dem Sturz und nun wieder auf Ebene der wachweltlichen Rahmenhandlung wird der Fuchs abermals von dem Kind gerettet. Es trägt das Tier auf den Armen durch die Dünen. Ein Trauermarsch von Tieren folgt den beiden. Anschließend wird die Fuchsfamilie vereint. Ob diese Vereinigung jedoch im Dies- oder Jenseits stattfindet, bleibt offen.

Kritik

Stilistisch zeichnet sich das Bilderbuch aus durch die unterschiedliche visuelle Gestaltung der beiden Erzählebenen sowie die tierlich-naive Sprache der Textstimme. So gliedert sich die Erzählung in eine wachweltliche Rahmen- und eine traumweltliche Binnenhandlung, die ästhetisch unterschiedlich realisiert werden: Auf Ebene der Rahmenhandlung lebt der Fuchs zunächst sein normales Fuchsleben. Mit seinem Sturz und der Bewusstlosigkeit beginnt der Traum. Die beiden Erzählebenen unterscheiden sich deutlich in ihrer Darstellungsweise. So wird die Rahmenhandlung durch blaugrüne Fotografien von Strandzügen dargestellt. Alle menschlichen und tierlichen Akteure werden zeichnerisch hinzugefügt. Besonders das leuchtstarke Orange des Fuchsfells sticht dabei auf dem blaugrünen Hintergrund hervor. Die binnenfiktionale Traumhandlung wird hingegen konventionell auf braunem Tonpapier gezeichnet. Dort werden illustrative Einzelbilder mit narrativen Bildpanels kombiniert.

Während auf Ebene der Rahmenhandlung die narrativen Inhalte vor allem visuell vermittelt werden, wird das Traumgeschehen vorwiegend sprachlich vermittelt, sodass das Bild-Text-Verhältnis dort primär symmetrisch ist. Die Sprache der Erzählstimme zeichnet sich hierbei durch einen eher mündlich-naiven Stil aus. Sie ist über den kleinen Fuchs fokalisiert, der auch gerne mal davon berichtet, wie Raschelmäuse schmecken: "Sie knacken so lecker zwischen den Kiefern" (o. S.). Zahlreiche Wiederholungen im Erzähltext und der häufig parataktische Satzbau wirken dabei besonders im Kontext der Traumerfahrung wie ein Gedächtnisstrom, in dem das gerade Geträumte unmittelbar mitgeteilt wird.

 vendel fuchs abbAbb. 1: Tolman/van de Vendel, 2020

Ein großes Fragezeichen wirft der Schluss des Bilderbuchs auf. Denn mit dem Übergang von der traumhaften Binnenhandlung zur wachweltlichen Rahmenhandlung und damit einhergehend dem Wechsel vom Tonkartonbraun der Traumwelt zum fotorealistischen Graugrün der Wachwelt betrachtet sich der Fuchs auf Textebene jedoch weiterhin als ein anderer – denn er sieht sich von oben. Der Wechsel von der Traum- zur Wachwelt geschieht hier also lediglich auf der Bildebene. Auf der Textebene verfolgen wir als die Leser*innen weiterhin die Traumwahrnehmung des Fuchses, die nach dem Wirklichkeitsstatus der Bildebene fragt. Dort heißt es nämlich: "Der kleine Fuchs sieht sich selbst daliegen. Das ist verrückt, denn das geht eigentlich nicht. Das geht nur im Traum. Der kleine Fuchs sieht den kleinen Fuchs irgendwo daliegen." (o. S.) Der kleine Fuchs betrachtet also weiterhin im Traummodus, wie er von dem Kind durch den Sand getragen wird, wie die beiden von einem Trauermarsch von Tieren begleitet werden und wie das Kind anschließend den Fuchs im Sand ablegt. Nach einiger Verunsicherung, was wohl aus dem kleinen Fuchs geworden sei, kommt die Textstimme schließlich zur Einsicht: "Der kleine Fuchs, das bin ja ich!" (o. S.) Anschließend soll alles gut werden: "Ich glaube ich weiß, was aus dem kleinen Fuchs geworden ist – der kleine Fuchs hat die Augen aufgemacht und dann war alles gut." (o. S.) Und so wacht der Fuchs schließlich auf und spielt vereint mit seiner Fuchsfamilie. Ob das Ende immer noch ein Traum ist? – Diese Frage lässt sich auch nach mehrmaligem Lesen nicht beantworten und das ist auch gut so. Dafür spricht jedoch so einiges.

 vendel fuchs abb2Abb. 2: Tolman/van de Vendel, 2020

Nun weist die eigentlich wachweltliche Rahmenhandlung typische Motive traumhafter Bilderbuchwelten auf. Christiane Solte-Gresser untersucht das Verhältnis von Text und Bild in Traum-Bilderbüchern und stellt fest, dass "sich eine deutliche Rollenverteilung zwischen sprachlicher und bildlicher Gestaltung erkennen [lässt]" (Solte-Gresser 2017, S. 356). Der Text habe dabei die Rolle, eine kohärente Traumhandlung zu erzählen, während das typisch Traumhafte vor allem bildlich vermittelt wird. "Grotesk, ambivalent, bizarr und Grenzen sprengend sind vor allem die einzelnen Bilder selbst", (ebd.) schreibt sie. Ferner stellt sie fest, dass mit steigender Intensität der Traumerfahrung die textuelle Vermittlungsebene abnimmt und am Höhepunkt des Traumerlebens die von ihr untersuchten Bilderbücher mitunter ganz ohne Worte auskommen, die Traumhandlung also rein visuell erzählt wird (vgl. ebd. S. 357).

Kommt man von diesen traummotivischen Beobachtungen nun wieder zurück zum Kleinen Fuchs, stellt sich die Frage, inwieweit auch das Ende der Fuchs-Erzählung nicht eine Rückkehr zur Rahmenhandlung ist, sondern den Höhepunkt der Traumhandlung darstellt – der Fuchs also niemals aufwacht. Indizien hierfür sind etwa die rahmenfiktionale Textlosigkeit, die sich auf den letzten Seiten fortsetzt. Die Rettung durch das Kind und der Trauermarsch der Tiere werden rein visuell erzählt. Ferner weist die Rahmenfiktion einen deutlich höheren Grad an traumhafter Absurdität auf als die eigentliche binnenfiktionale Traumsequenz, die im Gegenteil deutlich realistischer daherkommt. So spielt der Fuchs etwa zu Beginn mit den Wald- und Wasservögeln, während die Tiere im Traum ordnungsgemäß gejagt und gefressen werden. In diesem Kontext wirkt auch der blaugrün gefärbte fotografische Hintergrund in Kombination mit den leuchtstarken Tierzeichnungen deutlich traumartiger als die konventionelle Darstellungsweise der Binnenfiktion.

Damit lässt sich keine eindeutige Aussage über den ontologischen Status der vermeintlichen Wachwelt treffen. Vielmehr handelt es sich um eine "Traumdarstellung mit unsicheren Grenzen" (Kreuzer 2014, S. 89). Die kurze literaturwissenschaftliche Statusbestimmung von Traum- und Wachwelt bleibt also uneindeutig – und gerade darin liegt die große Qualität des Bilderbuches. Ob die finale Vereinigung der Fuchsfamilie im Dies- oder im Jenseits stattfindet, bleibt unklar und obliegt der individuellen Leseweise der Kinder und Erwachsenen. Damit gibt Der Kleine Fuchs viel Anlass zur Spekulation über die großen Fragen nach dem Leben, dem Tod und dem Dazwischen.

Fazit

Der kleine Fuchs erzählt von Neugier und Freundschaft, von Not und Hilfe, vom Träumen und Trauern. Am Ende wird alles gut. Ob im Dies- oder im Jenseits, wer weiß das schon. Die bedeutungsoffene Gestaltung der Bilder und der subtile Witz der tierlichen Erzählperspektive nehmen diesen mitunter schwierigen Themen ihre Schwermut. Gefallen wird dieses Buch Groß und Klein gleichermaßen. Geeignet ist es ab vier Jahren.

Literatur

  • Kreuzer, Stefanie: Traum und Erzählen in Literatur, Film und Kunst. Paderborn: Wilhelm Fink 2014.
  • Solte-Gresser, Christiane: Traum-Bilder-Bücher. Wie Text und Bild gemeinsam das Träumen inszenieren. In: Traumwelten. Interferenzen zwischen Text, Bild, Musik, Film und Wissenschaft. Hrsg. v. Patricia Oster-Stierle u. Janett Reinstädler. Paderborn 2017 (= Traum – Wissen – Erzählen 1). S. 345–373.
  • Tolman, Marije u. van de Vendel, Edward: Der kleine Fuchs. A. d. Niederländischen von Rolf Erdorf. Hildesheim: Gerstenberg 2020.

Weitere Nominierungen zum Deutschen Jugendliteraturpreis 2021 finden Sie hier

Titel: Der kleine Fuchs
Autor/-in:
  • Name: van de Vendel, Edward
Originalsprache: Niederländisch
Originaltitel: Vosje
Übersetzung:
  • Name: Rolf Erdorf
Illustrator/-in:
  • Name: Tolman, Marije
Erscheinungsort: Hildesheim
Erscheinungsjahr: 2020
Verlag: Gerstenberg
ISBN-13: 978-3-8369-6044-1
Seitenzahl: 88
Preis: 15,00
Altersempfehlung Redaktion: 4 Jahre
van de Vendel, Edward (Text)/Tolman, Marije (Bild): Der kleine Fuchs