Inhalt

Alexander Hoffmann (Leonard Scheicher) ist aufstrebender Wissenschaftler, der von der Erforschung fremder Kulturen fasziniert ist. Sein Ziel, Darwins These der evolutionär unterentwickelten Menschenrassen zu widerlegen, kostet ihn allerdings zunächst die Karriere. Er wird gesellschaftlich geächtet und in der Universität nicht zum Professor ernannt. Dabei zeigt der Film, dass Hoffmann in der Tat empirisch nachweisen kann, dass Darwins Thesen und die gesamte Rassetheorie auf irrigen, nicht validen Annahmen fußen. Während einer Völkerschau in Deutschland ist Hoffmann fasziniert von der Übersetzerin Kezia Kambazembi (Girley Charlene Jazama) und sie geht ihm nicht mehr aus dem Kopf.

Als eine Expedition nach Südwestafrika startet, hofft er zunächst, Kezia wiederzutreffen. Ihn erwartet aber die Konfrontation mit der Realität: Die „Deutschen Schutztruppen“ gehen mit menschenunwürdiger Härte gegen die Herero und Nama vor, begehen auch Kriegsverbrechen insbesondere an unbeteiligten Zivilistinnen und sogar Kindern. Hoffmann wird zunehmend selbst in moralisch fragwürdige Handlungen verstrickt, plündert und schändet im Sinne der Wissenschaft Gräber. Schließlich ordnet er sich sogar der Rasseideologie unter und lehrt nun als anerkannter Professor die darwinistischen Maximen.

Kritik

Seit einigen Jahren hat die Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte eine erkennbare mediale wie auch akademische Aufmerksamkeit erlangt. Nach Phasen des Verdrängens beziehungsweise eines nicht Stattfindens im öffentlichen Diskurs ist vor allem in den 2010er Jahren eine überfällige Hinwendung zu den Themen Kolonialismus, Völkermorde und Vertreibung von einheimischen Menschen auf dem afrikanischen Kontinent durch Deutsche zu bemerken. Bis heute schlagen sich die Spuren der Kolonialzeit in Deutschland nieder. So sind rassistische Strukturen der heutigen Gesellschaft in weiten Teilen auch durch die Ereignisse um die Wende zwischen 19. und 20. Jahrhundert begründet, als Völkerschauen Menschen vor inszenierten Kulissen ausstellten und exotisierten. Die Ausstellung von Menschen im Rahmen von Völkerschauen oder auch in Zoos und Zirkussen ist ein elementarer Bestandteil der Kolonialpropaganda. So werden die Ausgestellten als wilde, weniger Entwickelte inszeniert. Die Spuren dieser Propaganda wirken bis heute nach. Erste literarische Aufarbeitungen im postkolonialen Sinne erfuhr das Thema mit Uwe Timms Roman Morenga (1979), in dem die historisch verbürgten Genozide in Südwestafrika zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts an Ovaherero, Nama, Damara und San thematisiert wurden. Der Film Der vermessene Mensch von 2023 nimmt diesen Roman als Inspirationsquelle und setzt die Inhalte und die Geschichte in einen neuen Kontext.

Der Film steigt nach einer kurzen Einführung des Protagonisten mit einer Völkerschau in die Handlung ein. Alexander Hoffmann, ein aufstrebender Wissenschaftler mit Ambitionen auf einen eigenen Lehrstuhl an der Universität in Berlin, ist fasziniert von den Menschen, die auf der Völkerschau ausgestellt werden. Die afrikanischen Menschen wurden zum Teil gezwungen, zum Teil überredet, sich selbst im Rahmen dieser Völkerschau zu exponieren und bei der Gelegenheit Kostüme anzuziehen, um sich vor einer exotisierten Kulisse ablichten zu lassen. Der Film führt damit in eindrucksvollen Bildern vor Augen, dass ein künstliches und bewusst herabwürdigendes Bild der vermeintlichen Lebensbedingungen von Menschen konstruiert wurde. Diese Völkerschauen werden im Film als eine große, öffentlichkeitswirksame Kolonialpropaganda dargestellt, die das falsche Bild der evolutionären Unterlegenheit *schwarzer Menschen in den Köpfen der *weißen Menschen festsetzten. Grundlage dafür waren wissenschaftliche Behauptungen, die ideologisch eingefärbt waren und sich empirischer Evidenz widersetzten. Das zeigt auch der Film: Am Rande dieser Völkerschau erhalten die Studierenden des anerkannten Professors Joseph Ritter von Waldstätten die Möglichkeit, die im Rahmen der Völkerschau Ausgestellten zu vermessen und damit ihre völkerkundlichen Fertigkeiten zu erproben. Während dieser Vermessung fällt sofort auf, dass der Professor nicht an einer wirklichen empirischen Erforschung der Schädelgröße und der Maße der Herero interessiert ist, sondern er vielmehr die Bestätigung der auf Darwins Rassenideologie fußenden Beobachtungen wünscht, der zufolge die Schädel kleiner seien, was auf eine weniger fortgeschrittene evolutionäre Entwicklung schließen ließe.

Der Gegensatz zwischen Hoffmann, der in einen Dialog mit den Herero tritt und sich ihnen respektvoll nähert, und dem betagten Professor, der sogar in Kauf nimmt, dass die Herero bei den Vermessungen verletzt werden, macht deutlich, dass die Ethnologie nicht daran interessiert ist, wirkliche Erkenntnisse zu generieren. Hoffmann wird durch seine Position, es gäbe keine minderwertigen Rassen, sondern lediglich kulturell geprägte Unterschiede, belächelt und ihm bleibt die Professur versagt. Bis zum Schluss agiert die Wissenschaft an der Friedrich-Wilhelm-Universität keinesfalls redlich und schaltet aus, was nicht den eigenen ideologischen Vorstellungen entspricht. So wird auch Hoffmann zum Diener des Systems, um seine Karriere zu retten: Am Ende ist es nämlich derselbe Hoffmann, der Professor geworden ist und zu diesem Zeitpunkt selbst die Rassenideologie vertritt. Er bezeichnet seine ehemaligen Überlegungen in Bezug auf die Widerlegung der Rasselehre als überholt und meint, er sei mittlerweile gereift und reflektierter in Bezug auf dieses Thema. Die bisweilen düsteren Szenenbilder, die die wissenschaftliche Vorgehensweise zeigen, werden untermalt durch melancholische Klaviertöne, die immer wieder dramatisch gesteigert werden, bis ein bedrohlich harter Anschlag erklingt.

Im Dialog zwischen Hoffmann und einem Geistlichen wird deutlich, dass Kirche und Wissenschaft gemeinsam haben, Machtstrukturen perpetuiert und Unrecht verstärkt zu haben. Der Geistliche betont: „Nicht jede Allianz der Kirche war heilig, aber das trifft auf die Wissenschaft genauso zu.“ (Der vermessene Mensch, 01:32:16) Diese Aussage gegen Ende des Films lässt sich als eine geradezu leitmotivische Zusammenfassung dessen bezeichnen, was in der Handlung durchgehend dargestellt wird: Die deutsche Universität erscheint als ein ideologisch durchtränkter Ort, an dem Wissenschaft nicht darauf abzielt, Erkenntnisse über die Welt zu erlangen, sondern vorherrschende Machtstrukturen zu stabilisieren. Dass sich diese Wissenschaft vom Erkenntnisideal Alexander von Humboldts entfremdet hat, der danach strebte, die Welt zu verstehen, wie sie wirklich ist, thematisiert auch der junge Wissenschaftler Hoffmann in einer Diskussion an der Friedrich-Wilhelm-Universität Berlin. Diese Universität war gegründet worden als Humboldt-Universität. Selbst die Berufung Hoffmanns auf das Bildungsideal des ursprünglichen Namensgebers der Universität hilft ihm nicht, im Gegenteil: Er wird zum Opfer von Spott und gesellschaftlicher Ächtung, Isolation und beruflicher Hinderung.

Der vermessene Mensch zeigt nicht nur, wie pseudowissenschaftliche Verfahren zum Beweis der evolutionären Unterlegenheit angewendet und wie koloniale Blicke konstruiert wurden. Noch deutlich drastischer ist der Großteil der Handlung, der in Südwestafrika spielt und zeigt, wie grausam die „Deutschen Schutztruppen“ mit den Indigenen umgehen, welche barbarischen Kriegsverbrechen hier auch an Frauen und Kindern begangen wurden. Als nämlich der Aufstand der Herero und Nama zum Krieg mit dem wilhelminischen Deutschland führt, reist Hoffmann selbst mit nach Deutsch-Ostafrika und wird dort von Schutztruppen für Deutschsüdwestafrika vor Angriffen durch Indigene geschützt. Er hofft einerseits, seine Forschung weiterführen zu können und den Beweis dafür zu erbringen, dass die Herero und Nama keinesfalls wilde und unzivilisierte Menschen sind und auch keiner unterliegenden Menschenrasse angehören, und geht andererseits auch seinen Forschungsinteressen für die Erkundung der Kultur der Völker nach. Die musikalische Untermalung steigert sich zu bedrohlich grollendem Bass und die Bilder zeigen ebenfalls schonungslos und düster die Grausamkeit des Krieges, ohne dass Gewalt in einem exzessiven Sinne dargestellt wird.

Je länger Hoffmann Bestandteil der Expedition ist, desto stärker wird auch er moralisch zu grenzwertigen Handlungen aufgerufen beziehungsweise immer stärker in das Kriegsgeschehen und die ausbeuterischen Umgangsweisen mit der Kultur hineingezogen. So fängt er an, Plünderungen vorzunehmen, geht so weit, dass er sich mit einem korrupten General verbündet, mit dem er die indigenen Völker ‚im Namen der Wissenschaft‘ bestiehlt und später sogar Gräber schändet.

Mit einer aufstörenden Drastik werden Bilder von Kriegshandlungen gezeigt, es wird dargestellt, wie wehrlose Frauen und Kinder in der Wüste attackiert und daran gehindert werden, Trinkwasser zu erhalten. Hoffmann versucht zunächst noch, dagegen anzukämpfen, resigniert aber zusehends. Er kehrt zurück nach Deutschland und beschließt, sein Vorhaben aufzugeben und sich dem System unterzuordnen.

Fazit

Es ist ein großes Verdienst des Filmes, in schonungsloser Drastik zu zeigen, wie die wilhelminisch-deutsche Perspektive eine Form der Herabwürdigung von Menschen erstens pseudowissenschaftlich legitimiert und diese zweitens politisch und kriegerisch mit einer unerbittlichen Härte durchsetzt. Dabei wird immer wieder deutlich, dass in der Argumentation eine Täter-Opfer-Umkehr erfolgt: Die Herero und Nama, die einen Aufstand gegen das wilhelminische Deutschland praktizieren und sich damit gegen die Ausbeutung und die Unterdrückung wehren, werden als Aggressoren betrachtet, deren Ausrottung als Nothilfe ausgewiesen. Mit derartigen Argumentationsmustern wird die Position der Deutschen grundsätzlich negativ gezeigt und ad absurdum geführt. Es entsteht eine sehr kritische Wertung der deutschen Sichtweise, die eine geradezu beschämende Perspektive auf die deutsche Vergangenheit entwickelt.

Zu monieren ist allerdings, dass der Film eine dominant weiße Perspektive ausgestaltet und Persons of Color sehr stark marginalisiert. Diese Kritik wurde auch nach der Empfehlung durch den deutsche Film- und Medienbewertung wiederholt geäußert, etwa durch den Verein Schwarze Filmschaffende e.V. oder die taz. In der Tat werden die indigenen Figuren nicht individualisiert dargestellt. Viele Kameraeinstellungen zeigen in Weit-Aufnahmen sehr viele PoC, die relativ klein abgebildet werden. Schon in den Anfangsszenen sind die Aufnahmen während der Vermessung oft in der Totalen, wenn die PoC dargestellt werden. Damit besteht inhaltlich wie filmsprachlich die Gefahr, die rassifizierenden, unterlegenen und hierarchisierenden Denkmuster und Strukturen zu perpetuieren, anstatt sie zu dekonstruieren. Es entsteht häufig der Eindruck einer bloßen Zurschaustellung, die zwar in einem aufstörenden Sinne eingesetzt wird und darstellt, inwiefern die weißen Menschen an dieser Stelle einem Fehlverhalten aufsitzen, die dennoch aber eine Unterwerfung unter den westlichen Blick mit sich zieht. Bedauerlich ist auch, dass die Dialoge mit den Persons of Color zum Teil geradezu platt wirken. Hier reproduziert der Film Klischees, anstatt sie zu durchbrechen.

In jedem Falle liegt aber ein wichtiger Impuls vor, der eine Erweiterung der deutschen Erinnerungskultur herbeiführt und in jedem Falle aufstört. Insbesondere durch die Rahmung eines Wissenschaftlers, der sich nach und nach dem System andient, für die Karriere seine eigenen Überzeugungen und seine empirische Evidenz verrät und stattdessen eine rassenideologische Lehre vertritt, die eindeutig als falsch nachgewiesen wird, wird deutlich, wie Rassismus entstehen konnte und wieso er sich bis heute so stark festsetzt. Diese Aufarbeitung tut beim Zuschauen weh und ist in weiten Teilen mit einer mentalen Brutalität ausgestattet, die nichts für schwache Nerven ist. Insofern ist auch in Bezug auf diesen Film davon auszugehen, dass er dringend auch bei Jugendlichen über 16 Jahren nicht ohne Begleitung zu empfehlen ist und nicht ohne Einschränkungen von jedem verarbeitet werden kann.

Quellen

Schwarze Filmschaffende e.V.: Stellungnahme Schwarze Filmschaffende zu den Anti-Schwarzen Filmen Der vermessene Mensch, Seneca und Helt Super! https://www.docdroid.net/lcT0HXj/stellungnahme-schwarze-filmschaffende-deutsch-pdf#page=2 (14.06.2024).

Fanizadeh, Andreas: Spielfilm „Der vermessene Mensch“. German Kulissenschieber in Namibia. https://taz.de/Spielfilm-Der-vermessene-Mensch/!5921347/ (14.06.2024).

 

 

 

Titel: Der vermessene Mensch
Regie:
  • Name: Lars Kraume
Originalsprache: Deutsch, Otjiherero
Drehbuch:
  • Name: Lars Kraume
Erscheinungsjahr: 2023
Dauer (Minuten): 116
Altersempfehlung Redaktion: 16 Jahre
FSK: 12 Jahre
Format: Kino
Der vermessene Mensch (Lars Kraume, 2023)