Inhalt

Jede Nacht, pünktlich zur Geisterstunde, erwacht das kleine Gespenst auf Burg Eulenstein. Vergnügt spukt es durch die Burg, bei gutem Wetter besucht es am liebsten seinen Freund, den Uhu Schuhu. Der größte Wunsch des harmlosen Gespensts ist es, die Welt, die es nur bei Nacht kennt, einmal bei Tageslicht zu sehen. Doch alle Versuche, über die Geisterstunde hinaus wach zu bleiben, scheitern. Eines Tages aber geht der langgehegte Wunsch plötzlich doch in Erfüllung: Das kleine Gespenst erwacht mitten am Tag und ist begeistert von den bunten Farben seiner Umgebung. Aber die unbeschwerte Freude währt nur kurz, denn das bisher weiße Nachtgespenst wird von einem Sonnenstrahl getroffen und so in ein schwarzes Taggespenst verwandelt. Zunächst stiftet es übermütig als „schwarzer Unbekannter“ Chaos und Verwirrung in der Stadt Eulenberg. Bald aber hat es genug von Versteckspiel und Streichen und beginnt, sich nach dem nächtlichen Leben auf Burg Eulenstein und seinem Freund, dem Uhu, zurückzusehnen. Die Rückkehr gestaltet sich allerdings schwieriger als gedacht und gelingt schließlich nur mit den vereinten Kräften der beiden Kinder Marie und Karl sowie dem Uhu Schuhu.

Kritik

Die dichte Verbindung von Musik, Erzählpassagen und Dialogen macht den besonderen Reiz dieses Hörspiels aus. Die Kompositionen von Henrik Albrecht sind so intensiv mit allen Szenen verknüpft, dass die Musik ständig als weitere semantische Ebene fungiert. Das macht es den Hörerinnen und Hörern leicht, sich die Abenteuer des übermütigen kleinen Gespensts imaginativ zu vergegenwärtigen. Auch zu den Hörspielen Der kleine Wassermann (Silberfisch 2021) und Die kleine Hexe (Silberfisch 2021) hat Henrik Albrecht die Musik komponiert (beide Bearbeitungen sind ebenfalls von Gudrun Hartmann).

Das Hörspiel Das kleine Gespenst beginnt mit dem musikalische Leitmotiv, das symbolisch für die Titelfigur steht: Sie schwebt mit einem tänzerischen Querflötenmotiv in Achtelbewegungen im Dreivierteltakt, begleitet von Cembalo und Streichern, durch Burg Eulenstein. Dieses Motiv erklingt im Verlauf des Hörspiels immer wieder, auch in anderer Instrumentierung, und wird kontextabhängig variiert. In langsameren Passagen, beispielsweise wenn das kleine Gespenst traurig (z.B. 1/VIII/02:38) oder sehnsüchtig (z.B. 1/VI/00:21) ist, wird das Motiv von einem Theremin übernommen, dessen schwebende Glissandi wunderbar zu einem Gespenst passen. Das Theremin ist ein elektronisches Musikinstrument, dessen Funktionsprinzip eine kontinuierliche Veränderung der Tonhöhe ermöglicht und sich gut dazu eignet, Vibrati zu erzeugen. Dies prägt den spezifischen Klangcharakter des Instruments, dem dadurch etwas Unwirkliches und Schwebendes anhaftet. Wenn das kleine Gespenst gegen den vermeintlich zurückgekehrten General Torstenson kämpft, wird das Leitmotiv um Hörner (2/VII/02:25) erweitert, damit wird die entschlossene Kampfbereitschaft des Gespensts auf musikalischer Ebene zum Ausdruck gebracht.

Auch andere Figuren und Kontexte werden stets mit punktgenau komponierter Musik veranschaulicht: Wenn das Gespenst mit dem Bildnis des Burggrafen Georg Kasimir spricht, erklingt zum Beispiel Musik, die mit Cembalo und Streichern barocke Motive andeutet (1/II/2:58). Diese werden auch verwendet, wenn sich das Gespenst im Burgmuseum, seinem „absoluten Lieblingsraum“ (1/II/1:35), befindet. Dem Uhu Schuhu ist ebenfalls ein Leitmotiv zugeordnet: eine Klarinetten-Melodie im Viervierteltakt (1/III/2:05). Der behäbige, begriffsstutzige Bürgermeister von Eulenberg wird musikalisch passend von einer Tuba-Melodie kontextualisiert (2/II/02:49).

Carmen-Maja Antoni als Erzählerin und Anna Thalbach als kleines Gespenst bringen mit ihrer facetten- und emotionsreichen sprecherischen Darstellung die Abenteuer und Emotionen des kleinen Gespensts ausgezeichnet zum Ausdruck. Auch die übrigen Sprecherinnen und Sprecher überzeugen in ihren Rollen, wie zum Beispiel Gottfried Breitfuss als vierschrötiger Oberbürgermeister von Eulenberg, Christian Grashof als bedächtiger und treuer Uhu Schuhu, Valentina Biesinger als Marie und Cor Langeneck als Karl. „Glauben Sie mir, wir Nachtgeschöpfe, wir sind für das Tageslicht nicht geschaffen“, warnt der Uhu seinen übermütigen Freund (1/V/05:12). Das Gespenst möchte jedoch nichts davon hören und wird wenig später, auf der Flucht vor einer Schulklasse, prompt von einem Sonnenstrahl getroffen: Es ist nun kein weißes Nachtgespenst mehr, sondern wird zum schwarzen Taggespenst. Klanglich wird dieses Unglück in der höchsten Streicherlage und mit einem Harfentremolo verdeutlicht (1/X/03:05). Die hohen Töne symbolisieren das gleißende Sonnenlicht und eine hohe innere Spannung, die sich so auch auf die Hörerinnen und Hörer überträgt.

Das Hörspiel enthält außerdem zahlreiche kurze Lieder, die in Preußlers Erzählung nicht enthalten sind, zum Beispiel: „Denn Glücklichsein kann ganz allein nur der, der’s ist, und nie vergisst, dass Sonnenschein nicht alles ist.“ (1/VII/03:01) Es sind meist gereimte Zweizeiler, die sich mit einer eingängigen Melodie für die Hörerinnen und Hörer im Vorschul- und frühen Grundschulalter anbieten. Die musikalischen Motive der Lieder werden häufig bereits im Verlauf der vorhergehenden Szene vorbereitet und schließen die Szene ab. Dass die Lieder nicht allzu lang sind, hat zudem den Vorteil, dass der Handlungsablauf dadurch nicht wesentlich unterbrochen wird.

Sehr humorvoll auf Text- und Klangebene wird dargestellt, wie das kleine Gespenst in der Stadt Eulenberg sein Unwesen treibt als „schwarze Gestalt“: Das Erschrecken der Marktfrauen bildet einen wunderbar vielstimmigen Chor (1/XIII/00:23), im Restaurant zum Goldenen Löwen grüßt das Gespenst mit „Hallöchen Popöchen“ (1/XIII/00:26) – nun sind Männerstimmen im kollektiven Erschrecken zu hören, ebenso einen Tag später im städtischen Gaswerk (1/XIII/00:53). Das schadenfrohe, fröhliche Kichern des Gespensts und die immer neuen Schreckenslaute bilden eine (vor allem für jüngere Kinder) amüsante Klangkulisse. Die chorischen Elemente finden sich auch im Stadtrat wieder, der vom Bürgermeister einberufen wird. Auf dessen dringliche Aussage hin – „Wir müssen etwas unternehmen, meine Herren!“ – rufen alle entschlossen im Chor: „Jawohl, unternehmen!“ (1/XIII/01:44).

Auch der Wechsel von intradiegetischer zu extradiegetischer Musik während des historischen Festspiels in Eulenberg ist bemerkenswert: Das Schauspiel wird zunächst mit Marschmusik, die – klassisch – mit einer Blaskapelle im Viervierteltakt instrumentiert ist, begleitet (2/VI/01:40). Die Musik ist hier intradiegetisch, das heißt, sie kann auch von den Figuren im Hörspiel gehört werden und ist damit Bestandteil der fiktionalen Welt. Der Übergang zu extradiegetischer Hörspielmusik, die nur für die Hörerinnen und Hörer des Hörspiels wahrnehmbar, aber nicht Bestandteil der fiktionalen Welt ist, wird geschickt gelöst: Die bisherige Instrumentierung und der Rhythmus (Marsch im Viervierteltakt) werden beibehalten, damit knüpft die Musik inhaltlich an die Szene an, wechselt auf harmonischer Ebene aber – nun untypisch für die Marschmusik auf einem Festakt – in Moll (2/VII/01:44).

Parallel dazu sind die Gedanken des kleinen Gespensts zu hören, so dass die Zuordnung deutlich wird. Auch im vorhergehenden Track wird – in der gleichen Szene – der Übergang von intradiegetischer Musik zu extradiegetischer Musik ähnlich gelöst: Rhythmik und Schlagzeug der Blaskapelle werden beibehalten, die Bläser werden durch Streichinstrumente ersetzt und die Harmonik wechselt in Moll: Ein deutliches Signal, dass es nun um die Wahrnehmungen des kleinen Gespensts geht, die sich zudem nicht unbedingt mit den tatsächlichen Ereignissen während des Festspiels decken (2/VI/03:14).

Nachdem schließlich die beiden Kinder Marie und Karl, auf den Rat des Uhus hin, dafür gesorgt haben, dass die Rathausuhr um zwölf Stunden vorgestellt wird, wacht das kleine Gespenst endlich wieder um Mitternacht auf und kann sich auf den Heimweg machen. Der Übergang von seinem Aufenthalt in der Stadt bzw. bei den Kindern zur Rückkehr in sein Gespensterdasein auf Burg Eulenstein wird musikalisch mit einem Taktwechsel markiert: Das Leitmotiv des kleinen Gespensts wechselt von einem ruhigen Viervierteltakt in den Dreivierteltakt, dieses Mal mit Theremin gespielt (2/XIII/03:08).

Fazit

Das Hörspiel zeichnet sich durch eine intensive und äußerst gelungene Verknüpfung von durchkomponierter Hörspielmusik mit Dialogen und Erzähltext aus, was die Musik zu einer zentralen semantischen Ebene im Hörtext macht. Zahlreiche Lieder zum Mitsingen und die hervorragende sprecherische Leistung von Anna Thalbach als kleines Gespenst sowie von Carmen-Maja Antoni als Erzählerin machen die vorliegende Neuaufnahme des Kinderbuchklassikers zu einer absoluten Empfehlung. Das Hörspiel ist für Kinder ab fünf Jahren geeignet.

Dieser Beitrag erscheint im Rahmen des Hörspielschwerpunkts zum 100. Geburtstag Otfried Preußlers.

Titel: Das kleine Gespenst
Regie:
  • Name: Robert Schoen
Autor/Bearbeitung:
  • Name: Otfried Preußler
  • Name: Gudrun Hartmann
Sprechende: Carmen-Maja Antoni, Anna Thalbach, Christian Grashof, Gottfried Breitfuss, Santiago Ziesmer, Matthias Matschke, Valentina Biesinger und Cor Langeneck u.a.
Produktion: Silberfisch (Hörbuch Hamburg)
Erscheinungsjahr: 2021
Dauer (Minuten): 116
Preis: 13,00
Altersempfehlung Redaktion: 5 Jahre
Preußler, Otfried: Das kleine Gespenst (Hörspiel)