Inhalt

Es sind schreckliche Ereignisse sowohl innerhalb der Familie als auch im Freundeskreis, die Will aus der Bahn geworfen haben und für die er sich verantwortlich fühlt. Dementsprechend schwer wiegen die Selbstvorwürfe, die sich der Teenager tagtäglich macht. Wie kann man so eine erdrückende Last nur ertragen? Von seiner Mutter, die ausschließlich mit Hilfe von Kurznotizen mit ihrem Sohn zu kommunizieren scheint, erhält er nicht die so dringend benötigte Unterstützung, geschweige denn Trost. Seitdem er 13 ist, hilft dem Jungen einzig und allein das Laufen dabei, die Gedankenendlosschleifen zeitweise zu durchbrechen: „Lass deine Füße den Weg finden. Du merkst es, wenn das geschieht. Dann lass den Tag aus dir heraussickern. Lass alles, was dir in den Kopf kommt, frei darin herumschweben.“ (S. 15). Doch auch bei seiner Lieblingsbeschäftigung wird Will an die schlimmen Vorfälle erinnert, denn ein paar Adressen vermag er einfach nicht mehr anzusteuern;

Wenn Du ein Geher bist, ein echter Geher, dann finden deine Füße von selbst den Weg. Manchmal führt der richtige Weg an all den Orten vorbei, die du liebst, am Dom, am Park, am Markt mit seinen Ständen. Manchmal führt der richtige Weg an manchen Orten eben nicht vorbei, Orten, die du liebst, an denen du aber gerade eben unmöglich vorbeigehen kannst.

Zum Beispiel an Playas Haus.

Zum Beispiel der Voodoo-Laden.

Zum Beispiel die Brücke über die Fourth-Street. (Ebd., S. 13)

Auf seinem Weg durch die Kleinstadt, der eine Art Karthasis darstellt, trifft der Teenager auf ebenfalls untröstlich und einsam wirkende Personen, wie das Schmetterlingskerlchen oder den Obdachlosen Superman, deren Schicksale ihn berühren. Zudem hilft ihm die Musik, die selbst auferlegte Einsamkeit zu ertragen. So ruft er sich immer wieder Liedzeilen aus den Songs von David Bowie oder anderen Bands in Erinnerung, die sein Vater so gerne gemocht hat. Und während Will nachdenklich und grübelnd durch die Stadt geht, reift in ihm ein Plan, wie er Playa deutlich machen kann, dass jemand an sie denkt und sie nicht allein mit dieser schändlichen Tat dasteht. Er legt ihr von nun an kleine Aufmerksamkeiten und Zettelchen mit Mutmachsprüchen „Don’t let the bastards get you down“ (ebd., S. 187) vor die Tür. Als Playa ihn dabei ertappt, erkennen beide, dass sie mit ihrer gegenseitigen Unterstützung der Raumkapsel entkommen können: „Time to leave the capsule if you dare“ (ebd., S. 199).

Kritik

Der amerikanischen Autorin McGhee Ailson ist mit dem 2021 im deutschen Rezeptionsraum veröffentlichten Buch Wie man eine Raumkapsel verlässt, das bereits 2018 unter dem Originaltitel What I leave behind erschien, ein einfühlsamer Jugendroman gelungen, der bruchstückhaft und ungeordnet mit Hilfe von Erinnerungen, Gedankenfetzen und Wiedergabe von Gesprächen Wills Schicksalsschläge und Gefühlswelt offenbart. Wie bei einer zerbrochenen, zu kittenden Vase erfährt die Leserschaft Scherbe für Scherbe mehr über den einfühlsamen und empathischen Jungen, der zunächst ganz auf sich allein gestellt ist. Doch gewisse Konstanten wie der Job im Dollar Only und die dort geführten Gespräche mit dem seinem Vorgesetzten Mr. Montalvo, den er mit Major Tom anreden soll, geben ihm Halt und Orientierung. Aber auch das geschmacklich nicht ausgereifte Maisbrot seines verstorbenen Vaters, die zahlreichen popkulturellen Verweise sowie die 100 chinesischen Segenssprüche aus dem Voodoo-Laden in der Stadt wirken auf den Jungen beruhigend und ziehen sich leitmotivisch durch den Roman. Dieser besteht aus 100 kurzen, zumeist 100 Wörter umfassende Kapiteln auf Doppelseiten, wobei die die ganze linke Seite einnehmenden Kapitelzahlen mittels chinesischer Schriftzeichen bzw. Kalligraphien dargestellt werden. Der beeindruckenden Übersetzungskunst von Birgit Kollmann ist es zu verdanken, dass diese äußere Form auch in der deutschen Ausgabe erhalten bleibt.

Fazit

In Wie man eine Raumkapsel verlässt setzt die Autorin mit wenigen, aber so ausdrucksstarken Worten den in der Kinder- und Jugendliteratur vorherrschenden Trends des sensiblen männlichen Hauptprotagonisten fort. Der hoffnungsvolle Roman, der für Jugendliche ab 12 Jahren aber auch für Erwachsene gleichermaßen zu empfehlen ist, zeigt ungeschönt auf, dass die Bewältigung von schweren Schicksalsschlägen Zeit benötigt, aber dass es einen Ausweg gibt. Diese Wirkung scheint auch durch den im Anhang abgedruckten Dankesbrief eines Teenagers bestätigt zu sein. Der Roman wurde sowohl von der Jugendjury als auch von der Kritikerjury für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2022 nominiert.

Titel: Wie man eine Raumkapsel verlässt
Autor/-in:
  • Name: McGhee, Allison
Originalsprache: Englisch
Originaltitel: What I leave behind
Illustrator/-in:
  • Name: Sherman Ng
Erscheinungsort: München
Erscheinungsjahr: 2021
Verlag: dtv. Reihe Hanser
ISBN-13: 978-3-423-64071-8
Seitenzahl: 208
Preis: 12,95 €
Altersempfehlung Redaktion: 12 Jahre
Alsion, McGhee: Wie man eine Raumkapsel verlässt