Inhalt

Die Lesenden begeben sich zusammen mit den in der Heide lebenden einhundert Tulle-Zwergen durch ein Jahr, das seinen Anfang im Herbst nimmt, wo die Zwerge 'ihren' Nektar aus den Heideplanzen pressen müssen, um über den Winter zu kommen. Leider hat ein Bienenschwarm dieselbe Idee, um Wintervorräte anzusammeln. Doch Klein Pier, jüngster Tulle-Zwerg, sieht zufällig, dass die Bienen die Heidesträucher verschmähen, an denen die Zwergenmützen hängen. So gelingt den Zwergen eine Lösung, um mit den Bienen den Nektar zu teilen, ohne dass eine der beiden Parteien zu Schaden kommt.

Derartige Zufälle, die die Probleme der Tulle-Zwerge lösen, markieren oft die Zentren der Geschichten. So stellen die Zwerge im Sommer fest, dass der Bauer, von dessen Feld sie sich sieben Kartoffeln und noch mehr Möhren als Wintervorrat holen, das Feld plötzlich eingezäunt hat. Über den Zaun zu klettern, ist keine Lösung, zumal kleingeschnittene Möhren und Kartoffeln keinesfalls bis zum Winter halten. Doch zufällig findet Klein Pier einen alten Holzschuh vom Bauern neben dem kleinen Bach am Feld und entdeckt, dass man den Schuh als Schiff umfunktionieren und um den Zaun zum Feld herum fahren kann. Die Zwerge schippern nach und nach zum Feld, holen sich Kartoffeln und Möhren, von denen sie ein paar den Kaninchen abgeben, und legen so ihre Wintervorräte an.

Ein Zufall ist es auch, der das Kaninchen Wuscheline vor dem sicheren Tod rettet: Als sie erkrankt, können ihr die Tulle-Zwerge, die sich über die besonders kalten Wintertage bei ihnen einquartiert haben, einen Saft aus Birkenrinde und Minzeblätter brauen, der Wuscheline wieder gesund macht.

Bei all den Abenteuern, die die Zwerge erleben, ist jedoch eines immer vorhanden: ihr Zusammenhalt und die Aufmerksamkeit ihren Freunden gegenüber. Das beides sorgt dafür, dass ihre Zwergengemeinschaft so gut funktioniert und sich einer auf den anderen verlassen kann.

Kritik

Die Abenteuer der Tulle-Zwerge führt den Lesenden durch den Alltag und die Festtage der Zwerge, die viele Abenteuer bereithalten. Es ist klar, dass Paul Biegel nicht alle einhundert Zwerge zu Wort kommen lassen kann und nur eine 'kleine' Auswahl an Protagonisten präsentiert, an die sich der heterodiegetische Erzähler behutsam annähert. So gelingt eine Präsentation unterschiedlicher Charakterköpfe, die der Lesende schnell unterscheiden kann: Klein Pier ist zwar der kleinste Zwerg, hat aber den größten Mut und die besten Ideen, Buckeldieter ärgert Klein Pier zwar oft, wenn es jedoch darauf ankommt, hilft er ohne große Worte und packt mit an und Klotz als stärkster Zwerg reagiert oftmals zu impulsiv und muss von seinen Mitzwergen gebremst und beruhigt werden. Und Ate als Ältester ist – wie es sich gehört – der Weiseste und bringt nicht nur seinen Mitzwergen, sondern auch dem Lesenden das Wesen der Tulle-Zwerge nahe: "Wir sind keine gewöhnlichen Zwerge, sondern die Tulle-Zwerge. […] Ich meine, dass wir nur das suchen, was wir brauchen. Und was wir nicht brauchen, das kümmert uns nicht. Außer, wenn es von selber zu uns kommt." (S. 120) Trotz aller Individualität sind sie jedoch geeint durch Bescheidenheit, Freundschaft und ihren Zusammenhalt.

Vor dem Hintergrund aktueller ökologischer Debatten um Umweltschutz lässt sich aus der Geschichte ein bewusster Umgang mit der Natur und ökologischen Ressourcen herauslesen: Nur das, was tatsächlich benötigt wird, wird der Natur genommen. Das Anhäufen und Bewachen von Schätzen, wie es ihren Verwandten in Literatur und Mythologie oft nachgesagt wird, ist ihnen fremd. Ganz dem Konzept der Nachhaltigkeit verhaftet, überlegen die Zwerge, wie sie ihre Vorräte so lagern können, dass sie den ganzen Winter über halten. Der hier vorgelebten Nachhaltigkeit kommt insofern besondere Bedeutung zu, als dass die Originalausgabe des Buches bereits 1976 im Verlag Holland in Haarlem erschien. So scheint Paul Biegel – neben Tonke Dragt, Thea Beckmann und Annie M.G. Schmidt einer der Kinderbuchautoren der niederländischen Kinderliteraturszene – schon früh einen feinen Spürsinn für einen künftigen ökologischen und nachhaltigen Umgang mit der Natur entwickelt zu haben, denn genau diese Themen sind es auch, die gegenwärtig die zeitgenössische Kinder- und Jugendliteratur aufgreift (wie bspw. in Hase und Maulwurf: Zwei starke Freunde). Dementsprechend wird auch Umweltschutz bei den Zwergen großgeschrieben: Neben der mehrmaligen Rettung des Bienenvolkes – Bienen gelten nicht nur als wichtigste Blütenbestäuber, sondern sind auch ein wichtiger Honiglieferant – ist es das Beschützen der Schmetterlingkokons, das Klein Pier besonders am Herzen liegt. Und Abfall produzieren die Zwerge so gut wie gar nicht.

Die Figur des Zwergs, die Biegel in seinen Geschichten aufgreift und entwickelt, unterscheidet sich deutlich von den 'Zwergenbildern' literarischer und filmischer Werke seiner Zeit. Finden sich besonders im Bereich der (zeitgenössischen) Fantastik ganze Zwergenvölker, die mit Waffen ausgestattet kriegerisch in Schlachten ziehen, um nicht nur ihr Hab und Gut zu beschützen, sondern einen Zugewinn an Materialien zu 'erwirtschaften' – bestes und auch für die Fantastik prägendstes Beispiel sind wohl die Zwerge aus J.R.R. Tolkiens Der Hobbit sowie Der Herr der Ringe –, so hat Paul Biegel wunderbare Gestalten geschaffen, die keine kriegerische Charakteristik aufweisen, sondern als ein helfendes und friedliches, bisweilen unter der Erde lebendes Volk präsentiert werden. Damit knüpft Biegel an die mythologischen Ursprünge der Zwerge an, die ihrerseits oft als "Troll, Erdmännchen, Bergmännchen, Heinzelmännchen, Kobold oder Gnom" bezeichnet werden (Bengen: Die große Welt der Gartenzwerge, S. 11). V.a. in der nordischen Mythologie, aber auch der germanischen Mythologie können Zwerge als Schatzhüter auftreten, z.B. mit dem Zwergenkönig Alberich, der den Nibelungenhort schützt (vgl. Lippert: "Zwerge im Märchen"). Die Literatur hat weitere Zwerge bzw. Zwergengestalten hervorgebracht, wie z.B. die Zwergenkönige Oberon oder Laurin. Und die "Gebrüder Grimm sprechen im 32. Band ihres »Deutschen Wörterbuches« aus dem 19. Jahrhundert von Zwergen als dämonische Gestalten, die in Volksglauben und Volksaberglauben eine bedeutende Rolle spielen" (Bengen: Die große Welt der Gartenzwerge, S. 12). Ihre Schlauheit, kombiniert mit ihrer Kleinwüchsigkeit, lässt die Zwerge zudem oft als Gegenspieler "zu den dümmlichen, rohen und hässlichen Riesen" erscheinen (ebd., S. 11). Sowohl die Hilfsbereitschaft der Zwerge als auch deren dämonische Ausgestaltung haben sich in literarischen Werken, v.a. aber in Märchen niedergeschlagen, so bspw. im Märchen Schneewittchen, wo die Zwerge als Helfer der Protagonistin auftreten (vgl. dazu Lippert: „Zwerge im Märchen“). Biegel knüpft besonders an die positiven Eigenschaften der Zwerge an. So scheint es, als würden die Zwerge die Natur als ihren 'Schatz' hüten und ihn bewahren, um das ökologische Gleichgewicht zu sichern. Zudem werden Schlauheit und Ideenreichtum immer wieder in den Fokus gerückt, wenn es um die Lösung von Problemen geht - auch als es darum geht, den 'riesenhaften' Menschen auszutricksen und die Feldumzäunung zu umgehen. Besonders Klein Pier ist hier zu nennen: Als kleinster Zwerg hat er die besten Ideen und kann seine 'Mit-Zwerge' immer wieder mit kreativen Ideen überraschen.

Die 'Niedlichkeit' der Zwerge in Biegels Erzählung, deren Größe an einem Hasenohr gemessen werden kann – "Deine Ohren sind so groß, dass ich ganz reinpassen würde. Im Stehen sogar" (S. 57), wie Klein Pier zu Tibbe sagt – wird unterstrichen durch die wunderbar liebevollen Zeichnungen von Mies van Hout, die die in 21. Kapitel erzählten Geschichten bebildern und die Zwerge immer in Aktion zeigt, egal ob beim Möhren zersägen oder einem Kaninchenritt durch den Schnee.

Fazit

Mit Die Abenteuer der Tulle-Zwerge ist Paul Biegel ein unterhaltsames Buch gelungen, das sowohl durch die Geschichten als auch durch die bunten Zeichnungen von Mies van Hout besticht. Biegels Geschichten handeln von den 'zwischenzwergischen' Beziehungen und zeigen, dass ein friedliches Miteinander möglich ist, wenn jeder jeden in seiner Art und mit seinem Wesen akzeptiert und anzuerkennen weiß. Aufgrund dessen bestens geeignet zum Vor- und Selberlesen werden nicht nur Kinder ab ca. 4 Jahren an den Tulle-Zwergen ihre Freude haben, sondern ganz sicher auch die Vor- und Selbstleser!

Literatur

  • Bengen, Etta: Die große Welt der Gartenzwerge: Ein historischer Rückblick. Mythen, Herkunft, Traditionen. Suderburg-Hösseringen: Edition :anderweit Verlag, 2001.
  • Lippert, Karen: „Märchenatlas: Zwerge im Märchen“. http://www.maerchenatlas.de/miszellaneen/marchenfiguren/zwerge-im-marchen/ ( 03.02.2015).
  • Schäfke, Werner: "Was ist eigentlich ein Zwerg? Eine prototypensemantische Figurenanalyse der dvergar in der Sagaliteratur". In: Mediaevistik 23 (2010). S. 197-299.
  • Tarantul, Evgen: Elfen, Zwerge und Riesen. Untersuchung zur Vorstellungswelt germanischer Völker im Mittelalter. Frankfurt a. M. u.a.: Peter Lang, 2001 (= Europäische Hochschulschriften; Bd. 1791).
Titel: Die Abenteuer der Tulle-Zwerge
Autor/-in:
  • Name: Biegel, Paul
Originalsprache: Niederländisch
Originaltitel: De dwergjes van Tuil
Übersetzung:
  • Name: Eva Schweikart
Illustrator/-in:
  • Name: Mies van Hout
Erscheinungsort: Stuttgart
Erscheinungsjahr: 2012
Verlag: Urachhaus
ISBN-13: 978-3-8251-7802-4
Seitenzahl: 128
Preis: 16,00 €
Altersempfehlung Redaktion: 4 Jahre
Biegel, Paul: Die Abenteuer der Tulle-Zwerge